Geschlecht, Alter, Religion und mehr Wie divers ist das NRW-Parlament?

Dossier | Düsseldorf · Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland und, womit viele Politiker werben, auch ein vielfältiges: kulturell, religiös, gesellschaftlich bunt. Doch wie sehr gilt das für das Parlament? Eine RP-Datenrecherche gibt Aufschluss.

Landtagswahl NRW 2022: So ticken NRW und der Landtag
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So tickt unser Bundesland NRW - alle Grafiken über die Menschen und ihre Vertreter zur Landtagswahl

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Foto: Phil Ninh

Das Parlament, schon laut Definition die gewählte Vertretung des Volkes, ist das Herzstück der Demokratie. Einer repräsentativen Demokratie, was sowohl für den Bundestag als auch für die 16 Landtage der Republik gilt. Im Gegensatz zur direkten Demokratie treffen Bürgerinnen und Bürger also nicht selbst Entscheidungen, sondern beauftragen damit die Politiker und Politikerinnen ihrer Wahl. 199 Abgeordnete haben 17 Millionen Menschen in dieser Legislatur vertreten – aber wie sehr spiegeln die Abgeordneten eigentlich die Bevölkerung Nordrhein-Westfalens?

Eine umfangreiche RP-Datenrecherche zeigt: Das Düsseldorfer Parlament repräsentiert das Land nur bedingt, in mancherlei Hinsicht sogar überhaupt nicht. Ob bei der Verteilung von Männern und Frauen, der Altersspanne, dem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund oder dem Bildungsgrad – die Unterschiede zwischen der Volksvertretung und den tatsächlichen Verhältnissen in NRW sind teilweise riesig. Die Vielfalt der Religionen etwa repräsentiert der bisherige Landtag kaum, ähnlich ist es mit Menschen mit Behinderungen. Auch wenn die Angaben insgesamt keinen Anspruch auf Vollständigkeit haben.

Bei unserer Abfrage aller 199 Abgeordneten gab es nämlich grundsätzlich die Möglichkeit, keine Angabe zu machen, in einzelnen Kategorien oder auch gänzlich. Gefragt wurden die gewählten Politiker und Politikerinnen aller im Landtag vertretenen Parteien sowie die drei Fraktionslosen unter anderem nach ihrem Familienstand, Anzahl und Alter der Kinder, möglichem Migrationshintergrund, ihrer Berufsausbildung und ihrer Konfessionszugehörigkeit. Auch ob sie auf dem Land oder in der Stadt wohnen und welches Hauptverkehrsmittel sie nutzen, war Teil des Fragenkataloges.

Gar keine Angaben gemacht haben 42 Abgeordnete, davon 19 der CDU-Fraktion (26 Prozent aller CDU-Abgeordneten), zwölf der FDP-Fraktion (43 Prozent aller FDP-Abgeordneten), acht der SPD-Fraktion (12 Prozent aller SPD-Abgeordneten), zwei der Grünen-Fraktion (14 Prozent aller Grünen-Abgeordneten) und der Fraktionslose, vormals der AfD-Fraktionsvorsitzende Marcus Pretzell. Einzig in der AfD-Fraktion hat niemand gar keine Angaben gemacht.

Schnell ersichtlich, und doch erstaunlich ist die Relation der Geschlechter: Sind es NRW-weit beinahe paritätische Verhältnisse, nämlich 49,06 Prozent Männer und 50,94 Prozent Frauen (Stand 31.12.2020), machen Frauen im Düsseldorfer Landtag nicht einmal ein Drittel der Volksvertretung aus. Anteilig die wenigsten Frauen haben die AfD- und die FDP-Fraktion (23 bzw. 25 Prozent), auch bei der CDU machen männliche Abgeordnete drei Viertel der Fraktion aus (74 Prozent). Den höchsten Frauenanteil im Parlament haben die Grünen (43 Prozent), was allerdings auch nicht ganz an die Verhältnisse im Land heranreicht.

Auch das Durchschnittsalter im Parlament überrascht: Zwar reicht die Altersspanne vom jüngsten Abgeordneten, Alexander Brockmeier (FDP) aus Steinfurt mit 29 Jahren, bis zum Ältesten, Armin Jahl (SPD) aus Dortmund, mit 74 Jahren. Der Median, der Wert, der sich genau in der Mitte der Datenabfrage befindet, liegt allerdings um die 50 Jahre – und zwar bei allen Parteien.

Nonbinäre Personen, also Menschen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen, sind gar nicht im Parlament vertreten – auf die Frage nach dem Geschlecht antworteten alle Abgeordneten entweder mit „weiblich“ oder „männlich“. In der Bevölkerung ist der Anteil nonbinärer Personen zwar sehr gering, aber nicht gleich Null. Seit Anfang 2019 gibt es bei der amtlichen Geschlechterangabe neben „männlich“ und „weiblich“ auch die dritte Option „divers“. Valide Statistiken dazu gibt es nicht, bis Juli 2019 hatten in NRW 27 Menschen ihren Eintrag auf „divers“ ändern lassen, wie aus einer Antwort auf eine Anfrage im Landtag damals hervorging.

Auch die queere Community ist im Parlament unterrepräsentiert. Von 199 Abgeordneten leben nur zwei offen homosexuell, in der NRW-Bevölkerung sind es weit mehr als zwei Prozent. Einer Studie von 2018 zufolge sind mehr als sieben Prozent der Bevölkerung in Deutschland lesbisch, schwul, bisexuell, asexuell oder transgeschlechtlich, also schätzungsweise rund 1,3 Millionen Menschen in NRW. Eine große Bevölkerungsgruppe, deren Anliegen in der Landespolitik durchaus berücksichtigt werden: Denn NRW feiert etwa den bundesweiten „Diversity Tag“ im Mai, es gibt Kooperationen von Land und Interessensvertretungen wie dem „Queeren Netzwerk NRW“, und einen Aktionsplan für queeres Leben in NRW, den Familienminister Kostenpflichtiger Inhalt Joachim Stamp (FDP) 2020 auflegte. Einen eigenen Sprecherposten für queerpolitische Themen haben indes nur die Grünen im Landtag – besetzt mit Josefine Paul, die auch für Familien- und Frauenthemen zuständig ist und in einer Partnerschaft mit einer Frau lebt. (Lesen Sie hier das komplette Interview mit Josefine Paul.)

Ein weiterer Faktor der Vielfalt des Landes ist der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund: Mehr als fünf Millionen Bürgerinnen und Bürger, also fast jeder Dritte, prägt mit seiner Geschichte NRW als Einwanderungsland. Die meisten von ihnen haben Wurzeln in der Türkei, mit großem Abstand folgen Syrien, Polen, Rumänien, Italien und Griechenland.

Im Landtag spiegelt sich diese Vielfalt kaum: Nur zehn von 199 Abgeordneten gaben an, einen Migrationshintergrund zu haben (fünf Prozent), darunter portugiesische, türkische, polnische, jugoslawische, iranische und griechische Herkunft. 131 Personen gaben an, keinen Migrationshintergrund zu haben. 58 Befragte, also mehr als ein Viertel machten allerdings gar keine Angaben zu dieser Frage. Auch wenn der Faktor Zuwanderung bei den Abgeordneten seltener vorkommt, so findet das Thema dennoch einen wichtigen Platz: Familienminister Joachim Stamp (FDP) ist zugleich auch Integrationsminister des Landes. (Kostenpflichtiger Inhalt Lesen Sie hier unser Interview mit dem NRW-Landesintegrationsratsvorsitzenden Tayfun Keltek.)

Wenig vielfältig ist auch die Vertretung der Religionen im Parlament: Zwei Drittel der Abgeordneten sind Christen, die meisten (63 Prozent) davon erwartungsgemäß in der CDU-Fraktion mit 60 von 72 Fraktionsmitgliedern. Die Grünen zählen die meisten Protestanten, am wenigsten auskunftsfreudig waren die AfD- und die FDP-Fraktion bei dieser Frage – je etwa die Hälfte der Abgeordneten wollte nichts zur eigenen Konfession sagen. In NRW machte sich zuletzt die Zahl der Kirchenaustritte bei den Christen deutlich bemerkbar: Nur noch 59 Prozent der Bevölkerung gehören einer der beiden großen Kirchen an. Außerdem gibt es 1,8 Millionen Muslime (Stand 2019) und gut 12.000 Menschen jüdischen Glaubens in NRW (Stand 2021) – zwei Weltreligionen, die von niemandem im Landtag repräsentiert werden, oder die zumindest niemand offen angeben wollte.

Ähnlich ist es beim Thema Behinderung. Ein Großteil der Befragten wollte keine Angaben zu dieser persönlichen Frage machen. Vier gaben an, mit einer Behinderung zu leben, darunter ein Brillenträger. Ein Hinweis darauf, dass viele Menschen nicht wissen, welche Einschränkung welchem Grad der Behinderung zugrunde liegt, sagt Claudia Middendorf, die Behindertenbeauftragte des Landes NRW seit 2017, im Kostenpflichtiger Inhalt Interview mit der Rheinischen Post. 1,9 Millionen Menschen in NRW, also jeder Zehnte, hat eine Schwerbehinderung. „Ein Großteil der Behinderungen heute geht auf altersbedingte Einschränkungen zurück – wobei sich viele dieser Menschen selbst gar nicht beeinträchtigt fühlen“, so Middendorf. Eine große Wählergruppe, die nach Ansicht der Behindertenbeauftragten in der Politik kaum vertreten sind.

Ob Menschen mit Behinderungen, die queere Community, die Vielfältigkeit der Einwanderungsgeschichten oder auch der Religionen – die 199 Gewählten der vergangenen Legislatur haben das am dichtesten bevölkerte und besiedelte Bundesland in dieser Hinsicht unzureichend repräsentiert. Ob sich dies mit dem Gang an die Urnen am kommenden Sonntag ändern wird oder wie sehr vermeintliche Minderheiten im kommenden Landtag vertreten werden, die Wählerinnen und Wähler haben es selbst in der Hand.

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