SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert „Nicht weil jemand Mustafa heißt, wird er zum Gewalttäter“

Interview | Berlin · Der SPD-Generalsekretär spricht im Interview über Berlin-Zerrbilder, Friedrich Merz, Waffenlieferungen an die Ukraine und höhere Belastungen für Wohlhabende.

 Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD. (Archiv)

Kevin Kühnert, Generalsekretär der SPD. (Archiv)

Foto: dpa/Annette Riedl

Herr Kühnert, Sie kommen aus Berlin und leben in der Stadt. Was nervt Sie an Ihrer Heimat?

Kühnert Dazu fällt mir auf Anhieb wenig ein. Ich lebe hier extrem gerne. Gut, die Verkehrssituation ist wegen der schieren Dichte der Großstadt manchmal eine Zumutung. Und die Mietenentwicklung ist ein Problem, das wir aber maßgeblich im Bund lösen müssen. Alles in allem bin ich sehr überzeugter Berliner.

Haben die Bayern also einfach nicht verstanden, dass Berlin anders tickt und seine Eigenheiten hat?

Kühnert Berlin ist seit Klaus Wowereit auch politisch eine sehr fortschrittliche Stadt und nicht zuletzt durch die Erfahrung sozialer Unwuchten nach links gerückt. Konservative, die meist nicht in Berlin leben, arbeiten sich nun seit zwei Jahrzehnten an der Hauptstadt ab und machen sie zur Schablone von allem, was sie schon immer schlimm fanden. Da kann ich vieles nicht ernst nehmen.

Warum nicht? Haben sie nicht Recht mit ihrer Kritik an teils chaotischen Zuständen etwa in der Verwaltung oder bei Bauprojekten?

Kühnert Natürlich hat Berlin neben seinen begeisternden Seiten auch Probleme. Und das ist für eine Metropole mit vier Millionen Menschen soweit auch nicht ungewöhnlich. Probleme müssen gelöst werden. Was jedoch insbesondere Vertreter von CDU und CSU mit Blick auf Berlin zeichnen, ist ein Abziehbild von Sodom und Gomorra. Das sagt mehr über die Union, als über Berlin. Interessanterweise ziehen Jahr für Jahr aber aus den südlichen Bundesländern, wie auch aus NRW, mehr Menschen nach Berlin als von hier wieder weg. Offenkundig ist die Anziehungskraft Berlins konstant hoch.

Nun ist Berlin in der Silvesternacht wieder in die Schlagzeilen geraten, als es Angriffe auf Polizei- und Rettungskräfte gab. Halten Sie die aktuelle Integrationsdebatte für notwendig?

Kühnert Es kann keine zwei Meinungen zu den Silvester-Ausschreitungen geben. Die Angriffe auf Einsatzkräfte sind inakzeptabel und wir alle verurteilen sie scharf. Den Angegriffenen schulden wir Aufarbeitung und Konsequenzen. Ich wehre mich gleichzeitig gegen pauschale Aussagen, wonach die Krawalle Ausdruck der Lebenswirklichkeit in Berlin oder einer allgemein gescheiterten Integration gewesen seien. Solche Aussagen taugen im politischen Schlagabtausch als steile These, sie haben aber mit dem Alltag in Berlin wenig zu tun.

Sie sehen also keine Notwendigkeit, über Integration zu reden in dem Zusammenhang der Krawalle?

Kühnert Wir können auch gerne über Integration sprechen, aber bitte nicht nach Bierzelt-Manier. Jetzt geht es zuvorderst darum, die Täter zu ermitteln, sie zügig und angemessen zu bestrafen. Der Berliner Senat hat eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft beauftragt, die ersten Verfahren sind bereits übergeben.

Was eint die Täter aus Ihrer Sicht?

Kühnert Sie waren allesamt gewaltbereit und männlich. Gewalt hat in Deutschland ein klar männliches Gesicht. Wer sich versichern möchte, dass das auch jenseits von Neukölln gilt, darf im Internet mal nach den Worten ,Schützenfest‘ und ‚Straftaten‘ suchen. Nicht weil jemand Mustafa heißt, wird er zum Gewalttäter, sondern durch Prägung und Umfeld. Migrantische Stadtteile sind oft arme Stadtteile. Mangelnde soziale Perspektiven gepaart mit Selbstbehauptung auf der Straße und Macho-Vorbildern im Umfeld werden zum Strudel. Und der muss gestoppt werden.

Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey und Bundesinnenministerin Nancy Faeser wollen als Konsequenz aus den Randalen das Waffenrecht verschärfen, die FDP hat Zweifel. Wird das im Koalitionsstreit versanden?

Kühnert Diese Reform ist überfällig und ich glaube, wir sollten noch einmal ganz grundsätzlich werden. Mir hat noch niemand plausibel erklären können, zu welchem Zweck Zivilsten wie ich überhaupt Schreckschusspistolen benötigen. Dass die FDP nun Freiheitsbeschränkungen fürchtet, halte ich für fehl am Platz. Wir sollten uns US-amerikanische Debatten nicht zu eigen machen. Der Freiheitsbegriff im Zusammenhang mit dem Recht, eine Waffe tragen zu dürfen, ist ein pervertierter Freiheitsbegriff. Die SPD wird dafür kämpfen, den Zugang zu Waffen  zu erschweren, wo immer es der öffentlichen Sicherheit nutzt.

Eine andere Diskussion betrifft das Koalitionsvorhaben, Abschiebungen zu erleichtern. Sollten Rückführungen Teil des Stoppsignals sein, von dem Franziska Giffey nach den Silvester-Krawallen sprach?

Kühnert Den Großteil der Silvester-Täter könnte man wohl höchstens in den benachbarten Bezirk abschieben, weil die nämlich aus Berlin stammen und vielfach Deutsche sind. Die sofortige Forderung nach Abschiebungen verrät viel über die Debatte, weil hier unterstellt wird, das Problem käme von außen. Auch Friedrich Merz weiß, dass zwischen der Aussage ,Der muss weg!’ und einer tatsächlichen Abschiebung oftmals rechtlich sehr komplizierte Verfahren liegen, an denen fortwährend gearbeitet wird. Mein politischer Anspruch ist es, die Probleme an der Wurzel zu packen, so dass junge Männer jeglicher Herkunft gar nicht erst zu Tätern werden, sich nicht radikalisieren. Ich frage mich übrigens ernsthaft, wo die Berliner Koalitionspartner von Linken und Grünen bei dem Thema eigentlich stehen. Bei der Berliner CDU weiß ich es wenigstens: Sie ist näher an Markus Söders Populismus als an der Seite der Stadt, die sie regieren möchte.

Nicht nur in Berlin wird in diesem Jahr gewählt, auch in Hessen. Hätte Nancy Faeser als Spitzenkandidatin die besten Chancen für die SPD?

Kühnert Nancy Faeser kommt aus der hessischen Landespolitik und hat sich dort als Innenpolitikerin einen Namen gemacht. So wurde sie zur Bundesinnenministerin. Aber ich weiß wirklich nicht, wie sich die Hessen-SPD und Nancy Faeser entscheiden werden. Aber wer auch immer künftig mit ihr zusammenarbeiten darf, kann sich darauf freuen.

Eine Frage, die in der SPD kontrovers diskutiert wird, sind die Waffenlieferungen an die Ukraine. Hat Kanzler Olaf Scholz einen Blankoscheck der SPD-Parteispitze, jedes Waffensystem an die Ukraine zu liefern, solange er sich mit den westlichen Verbündeten abstimmt?

Kühnert Die Maßgaben der SPD und des Bundeskanzlers in der Ukraine-Politik sind identisch. Wir als Partei sind ein politischer Akteur. Uns geht es um verlässliche politische Maßgaben, wie die Wiedererlangung der ukrainischen Souveränität über ihr Staatsgebiet oder dass die Nato nicht zur Kriegspartei wird. Wir können jedoch nicht abschließend militärtaktische Fragen beantworten. Das wird auf der Fachebene und mit den Bündnispartnern entschieden, auf Grundlage solider Informationen.

Aber Waffenlieferungen haben eine politische Dimension, wenn es etwa um die Frage geht, ab wann man zur Kriegspartei wird.

Kühnert Deswegen gibt es klare Grenzen bei Atomwaffen oder einer Flugverbotszone, die von Nato-Flugzeugen überwacht werden müsste. Wer sich für diese entscheidet, würde zur Kriegspartei.

Kampfpanzer wie der deutsche Leopard 2 fallen aber nicht in diese Kategorie?

Kühnert Bei der Frage nach Lieferungen von Mardern, Leoparden und all den anderen Waffengattungen geht es einerseits um ihren militärischen Nutzen in der Ostukraine. Den können Fachleute besser beurteilen als wir. Andererseits geht es um politische Dynamiken, die Abschätzung von Risiken und die eigene Verteidigungsfähigkeit. Das müssen wir politisch immer wieder neu abwägen.

Warum waren dann Kampfpanzer bislang ein politisches Tabu?

Kühnert  Einigkeit und Einvernehmen mit den Bündnispartnern sind für die SPD eine politisch zwingende Maßgabe.

Angenommen, es gäbe nun diese Einigkeit für die Lieferung von Kampfpanzern, dann wäre ihre Lieferung auch kein Tabu mehr?

Kühnert Meine Antwort hatte keinen doppelten Boden.

Sie werden als SPD-Generalsekretär eine Kommission für die höhere Besteuerung von Wohlhabenden organisieren. Was soll dabei herauskommen?

Kühnert Die SPD hat klare steuerpolitische Konzepte, die bleiben gültig, auch wenn wir aktuell keine Mehrheit für sie haben. Jetzt geht es um etwas Anderes. Wir erleben gerade einen krassen Wandel unseres Wirtschaftens. Die SPD will, dass unser Land Industrieland bleibt, um Wohlstand und gute Arbeitsplätze zu sichern. Das gibt es aber nicht umsonst. Zudem steckt unser Land in einer Krise, die bei den Verhandlungen zum Koalitionsvertrag nicht absehbar war. Dafür war die Ampel bereit, bis zu 300 Milliarden Euro in die Hand zu nehmen, sofern dies notwendig wird. Das ist gutes Krisenmanagement. Die Haltung jedoch, dass selbst für Superreiche keine Steuern angepackt werden, ist angesichts dieser grundlegenden Veränderungen weder zeitgemäß, noch gerecht.

Was sagen Sie also der FDP?

Kühnert Wir brauchen noch in dieser Legislaturperiode eine Übereinkunft, wie wir einen Hilfspakete-Payback für diejenigen organisieren, die die teils zwangsweise mit der Gießkanne ausgegebenen Entlastungen nicht benötigten. Diese Fehlverteilung zu korrigieren, daran sollte auch die FDP im Sinne des sorgsamen Umgangs mit Steuermitteln ein Interesse haben.

Welche Gruppen soll das treffen?

Kühnert Wir wollen niemanden „treffen“, sondern einfach für mehr Gerechtigkeit sorgen. Viele haben ja selbst kundgetan, dass sie beispielsweise keine Energiepreispauschale von 300 Euro benötigt hätten.

Hat die FDP keinen Respekt vor der Autorität des Kanzlers, wenn liberale Regierungsvertreter die Atomdebatte weiter schüren?

Kühnert Es ist das gute Recht der FDP, mit einem Ja zu Atomkraft verbunden werden zu wollen. Aber die Sache ist durch den Kanzler entschieden worden, nachdem andere nicht zum Kompromiss fähig waren. Daran gibt es nichts zu rütteln. Was wir jetzt bei der FDP vermehrt sehen, richtet sich wohl eher als Parteifolklore an die eigenen Reihen.

Ist es einer Ihrer guten Vorsätze für das neue Jahr, selber weniger Parteifolklore zu betreiben?

Kühnert Ich kann nicht garantieren, dass es immer klappt. Und ich mag Folklore sogar. Die Leute sollen gern Unterschiede zwischen den Parteien sehen können. Doch je ernster das Thema, desto mehr verkneife ich mir die Folklore.

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