Krieg in der Ukraine Wie Bund und Länder sich auf steigende Flüchtlingszahlen einstellen

Analyse | Berlin · Hunderttausende Menschen fliehen inzwischen vor dem Krieg in der Ukraine und der anhaltenden russischen Aggression. In Deutschland kommt bislang nur ein relativ kleiner Teil davon an. Doch bundesweit laufen die Vorbereitungen auf steigende Flüchtlingszahlen. Und auch auf EU-Ebene werden wichtige Weichen gestellt.

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Erste Flüchtlinge erreichen Deutschland

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Foto: dpa/Boris Roessler

Der Krieg in der Ukraine und die unverminderte Brutalität des russischen Angriffs haben bereits Hunderttausende Menschen zur Flucht gezwungen. Seit Kriegsbeginn sind nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) rund 520.000 Menschen in die Nachbarländer der Ukraine geflüchtet – nach Ungarn, Rumänien, in die Slowakei und auch nach Russland. Die meisten davon flohen nach Polen, nach Angaben des Grenzschutzes bisher mehr als 377.400 Menschen. In Deutschland sind bisher vergleichsweise wenige Flüchtlinge angekommen: Bislang seien rund 3000 Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine durch die Bundespolizei festgestellt worden, teilte das Bundesinnenministerium (BMI) am Dienstag auf Nachfrage mit. Die Zahlen würden durch Schleierfahndung festgestellt werden und könnten tatsächlich „wesentlich höher“ sein, hieß es.

Die Innenminister von Bund und Ländern berieten am Dienstag erneut über die Aufnahme und Hilfe für die geflüchteten Menschen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) sprach von großer Unterstützung, Solidarität und Menschlichkeit. „Wir erleben eine sehr große Hilfsbereitschaft angesichts des unfassbaren Leids, das Putin mit seinem verbrecherischen Angriffskrieg gegen die Ukraine anrichtet“, sagte Faeser unserer Redaktion. „Bund, Länder und Kommunen, aber auch viele Initiativen in unserem Land wollen Kriegsflüchtlinge unterstützen“, so die SPD-Politikerin.  Die Unterstützung für deutsche Nachbarstaaten, insbesondere für Aufnahmeeinrichtungen, laufe jetzt an, ebenso die Lieferung von Medikamenten und Impfstoffen.

Im Grenzbundesland Brandenburg geht man davon aus, dass ein Großteil der Ankommenden bei Verwandten und Bekannten unterkomme und sich aufgrund des 90-Tage-Visums vorerst nicht bei den Behörden melde, teilte das brandenburgische Innenministerium mit. Ukrainische Staatsbürger mit gültigem Pass können sich 90 Tage visafrei in Deutschland aufhalten. Brandenburg hält aber auch seine Erstaufnahmeeinrichtungen bereit. Momentan würden die Kapazitäten ausreichen. Diese ließen sich kurzfristig durch Zelte, Turnhallen oder Anmietungen von zusätzlichen Räumlichkeiten ausweiten, hieß es. Innenminister Michael Stübgen (CDU) forderte vom Bund Klarheit beim Aufenthaltsstatus und eine Finanzierung der Flüchtlingsaufnahme. „Eine Kostenübernahme durch den Bund, wie sie bereits 2015 angewandt wurde, ist dabei der beste Weg. Das schafft den Bundesländern und den Kommunen die notwendige Handlungssicherheit“, sagte der CDU-Politiker.

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sprach von großer Aufnahmebereitschaft und Solidarität in Bayern, die auch bei zahlreichen Demonstrationen am Wochenende kundgetan worden sei. „Viele Kommunen im Freistaat haben bereits früh ihre Bereitschaft zur Unterstützung signalisiert und Sachspenden für Hilfskonvois gesammelt sowie vor Ort mit den Vorbereitungen für die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen begonnen“, sagte Herrmann unserer Redaktion. „Ich bin zuversichtlich, dass wir auch eine größere Zahl von geflüchteten Ukrainern gut aufnehmen können.“

Bundesweit läuft derzeit eine  Bestandsaufnahme über die verfügbaren und schnell aktivierbaren Aufnahme- und Unterbringungskapazitäten. Laut BMI sollen die Ergebnisse an diesem Mittwoch mit den Ländern besprochen werden. Zudem wird geprüft, mittel- und langfristig „Lösungen im Immobilienbereich“ zu schaffen, etwa durch Liegenschaften und Grundstücke, um eine „zusätzliche Reserve zu entwickeln“, so ein BMI-Sprecher.

Fotos: Ukraine-Krieg - Menschen flüchten aus dem Land
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Menschen flüchten aus der Ukraine

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Foto: AP/Emilio Morenatti

Insgesamt stellen sich die Vereinten Nationen auf eine mögliche Versorgung von bis zu vier Millionen Flüchtlingen ein. Auch auf EU-Ebene laufen weitere Vorbereitungen. So soll eine Regel für den Fall eines „massenhaften Zustroms“ von Kriegsflüchtlingen in Kraft gesetzt werden. Sie würde eine unbürokratische Aufnahme ermöglichen. Menschen, die wegen des russischen Krieges in die EU fliehen, könnte dann ohne langes Asylverfahren vorübergehender Schutz mit bestimmten Mindeststandards gewährt werden. Am Donnerstag kommen die EU-Innenminister erneut zu einem Krisentreffen in Brüssel zusammen, bei dem die Regelung beschlossen werden soll.

Innenministerin Faeser sprach von einem „Schulterschluss aller Staaten der Europäischen Union zur gemeinsamen, schnellen und unbürokratischen Aufnahme von Kriegsflüchtlingen“, der am Sonntag erstmals erreicht worden sei. „Die Rechtsgrundlage, die nach den Balkan-Kriegen geschaffen wurde, wenden wir erstmals an“, sagte Faeser. Man schaffe damit in allen EU-Mitgliedstaaten das gleiche, unbürokratische Verfahren zur Aufnahme von Kriegsflüchtlingen. Geflüchtete aus der Ukraine würden dadurch einen vorübergehenden Schutz in der EU für bis zu drei Jahre erhalten. „Wir regeln jetzt schnellstens, dass auch Krankenversicherungsschutz und der Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine bestehen wird“, so die SPD-Politikerin weiter.

Eine positive Rückmeldung dazu kam aus den Grenzbundesländern. „Die Ankündigung auf EU-Ebene, die Regeln für den Fall eines massenhaften Zustroms von Kriegsflüchtlingen in Kraft zu setzen, begrüße ich sehr“, sagte Bayerns Innenminister Herrmann. Er forderte zudem, dass sich der Bund für ein europäisches Gesamtkonzept einsetzt, das auch Fragen der Registrierung und Verteilung regeln solle. „In einem weiteren Schritt ist der Bund auch gefordert, ein Verteilungskonzept für die Flüchtlinge innerhalb Deutschlands zu entwickeln. Grundlage dafür wird wohl wieder der sogenannte Königsteiner Schlüssel“, so der CSU-Politiker.

Aus Sicht seines brandenburgischen Amtskollege Stübgen wäre die europaweit einheitliche Anerkennung als Kriegsflüchtlinge „der einzig sinnvolle Weg“. Der CDU-Politiker betonte: „Diese Regelung ist aber längst überfällig. Es ist gut, dass die Bundesregierung jetzt in Vorleistung gehen und das erstmal als Übergangslösung für Deutschland beschließen will.“

Um konkrete Hilfsgüter bereitzustellen, werden auf EU-Ebene zudem sogenannte „Hubs“ nahe der ukrainischen Grenze vorbereitet. Laut BMI sollen dort etwa medizinisches Material und Ausstattung für schutzsuchende Menschen gebündelt werden. Die Bundesregierung fuhr auch die finanzielle Unterstützung für Hilfsorganisationen hoch. So fließt eine Million Euro an das Deutsche Rote Kreuz, um Nothilfemaßnahmen an der Grenze leisten zu können. Der deutsche Beitrag zum humanitären VN-Hilfsfonds für die Ukraine sei um fünf Millionen Euro aufgestockt worden. Für das Internationale Komitee des Roten Kreuzes würden weitere Hilfe in Höhe von zehn Millionen Euro kurzfristig bereitgestellt werden.

 Flüchtlinge, die vor dem russischen Angriff auf die Ukraine geflohen sind, versuchen sich am polnischen Grenzübergang Medyka warm zu halten.

Flüchtlinge, die vor dem russischen Angriff auf die Ukraine geflohen sind, versuchen sich am polnischen Grenzübergang Medyka warm zu halten.

Foto: dpa/Visar Kryeziu
Zehntausende flüchten nach Rumänien
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Zehntausende flüchten nach Rumänien

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Foto: dpa/Andreea Alexandru

Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) zeigte sich am Dienstag erschüttert über die Ereignisse in den Grenzgebieten. „Mütter lassen ihre Ehemänner zurück. Kinder ihre Väter. Freundinnen ihre Freunde. Weil die Männer ihr Land verteidigen.“ Es gehe nicht nur um humanitäre Hilfe. Es gehe auch um psychologische Hilfe, die nun gemeinsam geleistet werden müsse, sagte Baerbock nach einem Treffen mit ihren Außenministerkollegen aus Frankreich und Polen, Jean-Yves Le Drian und Zibgniew Rau.

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