Schwerpunkt Diversity „Bleib nicht so lange“ - die Geschichte von drei Frauen türkischer Gastarbeiter

Wesel · Emine Camli, Cahide Zaman und Melek Aydindag sind die Frauen türkischer Gastarbeiter. Anfang der 70er kommen sie in ein Land, das nicht auf sie gewartet hat. Wie ist es ihnen ergangen?

 Emine Camli (vorne M.) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan und Tochter Zeynep Turan (52, v. r.).   

Emine Camli (vorne M.) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan und Tochter Zeynep Turan (52, v. r.).  

Foto: Henning Rasche

Cahide Zaman

Als Cahide Zaman das erste Mal deutschen Boden betritt, ist ihr Mann nicht da. Es ist das Jahr 1970, Ende November, das Flugzeug hat sie und ihre drei Kinder in ein fremdes Land geflogen. In Duisburg-Meiderich, tiefes Ruhrgebiet, soll ihr neues Leben beginnen und ein alter Bekannter warten. Doch Mustafa, Ehemann und Vater, ist weg. Es war knapp, er hat Verbrennungen am ganzen Körper, er hört kaum etwas, seine Haare sind weg. Die Verwandten, die schon länger in Duisburg sind, sagen, er sei auf Schicht. Dabei liegt er im Krankenhaus.

Am zweiten Tag ist Mustafa Zaman immer noch auf Schicht, seine Frau will nun die Wahrheit wissen. Sie fährt mit ihren Kindern zum Krankenhaus, wo sie eine Mumie treffen. Nur die Augen und den Mund können sie, die anderthalb Jahre lang 4000 Kilometer voneinander getrennt waren, sehen. Der Rest ist verhüllt in Verbände und Mullbinden. Die Kinder erkennen ihren Vater, schwer verletzt nach einem Arbeitsunfall, kaum wieder.

Emine Camli

Sie traut ihren Augen nicht. Emine Camli öffnet den Briefumschlag und zieht ein paar Fotos heraus. Darauf zu sehen ist ihr Mann, Ali, er trägt Perücken und ist umgeben von leicht bekleideten Frauen. Er ist seit ein paar Jahren fort, 1968 in die Niederlande, 1971 nach Wesel, wo er in einer Glasfabrik arbeitet. Am Niederrhein lernt er die Freuden des Karnevals kennen, von denen seine Familie, die in einem Dorf in der Nähe von Denizli im Westen der Türkei lebt, noch nie gehört hat. Emine Camli ist sauer. Ich bin hier mit den Kindern und er feiert mit anderen Frauen, denkt sie sich.

Ihre Schwestern sind nach der Geburt ihrer Kinder gestorben, also nimmt Emine Camli sie auf. Sie kümmert sich um ihre Tochter und ihren Sohn und die vier Kinder ihrer Geschwister. Die Familie baut ein Haus. Zwölf Jahre lang bleibt Emine Camli damit allein, Ali, ihr Mann kommt einmal im Jahr im Sommer für ein paar Wochen. Weil sie nicht lesen und schreiben kann, sprechen sie Kassetten ein und schicken sie zwischen Deutschland und der Türkei hin und her. Sie wollen nur ihre Stimmen hören.

Melek Aydindag

Den Baum darf sie nicht verpassen. Melek Aydindag fährt mit dem Bus durch Wesel, es ist das Jahr 1972, sie ist gerade in diesem fernen Land angekommen. Sie kann kein Deutsch, woher auch, eine Schule durfte sie in der Türkei nicht besuchen. Ihr Opa hat das verboten, damit sie den Jungs keine Liebesbriefe schreiben kann. Also bleibt ihr nur der große, schöne Baum an der Ecke, den sie sich einprägt. Wenn sie ihn sieht, muss sie an der nächsten Haltestelle aussteigen. Als er viele Jahre später gefällt wird, weint sie.

Emine Camli

Mit einem kleinen Mercedes kommt jeden Tag der Bäcker in die Straße der Camlis. Sie leben in Wesel in einem Bauernhaus, zusammen mit sechs türkischen Familien, die Toilette für alle auf dem Gang. In der Nachbarschaft lebt eine Frau, die alle bloß „Mama“ nennen. Sie stammt aus der gleichen Gegend in der Türkei, ist aber schon ein paar Jahre früher gekommen und spricht Deutsch. Sie hilft bei beim Einkaufen, bei Behörden, übersetzt Briefe und macht Plätzchen. Zeynep Camli, die Tochter von Emine und Ali, besorgt bei dem Bäcker ein Landbrot, 1750 Gramm, sagt sie, geschnitten. Zeynep sagt zu ihrem Vater: Das esse ich nicht.

Melek Aydindag

Anderthalb Jahre alt ist ihr Sohn nur geworden, dann stirbt er an einer Lungenentzündung. Melek Aydindag ist mit dem Unglück allein in Sivas, Zentralanatolien, ihr Mann arbeitet im entfernten Wesel in einer Futterfabrik. Vom Tod seines Sohnes erfährt er erst Monate später, ein Telefon gibt es nicht, die Post braucht ewig. Er kann nicht sofort kommen, die Arbeit.

Cahide Zaman

In der Türkei war Mustafa Zaman Staatsbeamter in Kars, im Osten der Türkei. Einmal in der Woche hat eine Kutsche das Ehepaar ins Hamam gebracht, in die Badeanstalt. Zu Hause gab es teure Kleider und Bananen, Bilgenur, die älteste Tochter hatte eine Nanny. Wenn sie geblieben wären, hätten seine Kinder alle studieren können, sagt Mustafa Zaman. Aber sie sind gegangen, nach Deutschland. Aus Jux und Dollerei, wie er heute sagt.

Auf der Arbeit bleibt Mustafa Zaman viel unter Türken. Es hängen Zettel an den Wänden, türkische Wegweiser zur Kantine oder zur Umkleide. Kontakte zu Deutschen gibt es kaum. Mustafa Zaman bringt seiner Frau Cahide zwei deutsche Wörter bei: Ja und Nein. Als er arbeiten ist und zu Hause ein Vertreter klingelt, wird Cahide Zaman nervös und vergisst die Wörter. Sie holt einen Schrubber und verjagt den Vertreter. Ich hatte Angst um meine Knochen, sagt sie.

Emine Camli

Das Land, in das sie gekommen ist, gefällt ihr nicht. „Ich fühlte mich leer. Alles war anders, alles war neu. Es war alles leer, die Menschen, das Umfeld, die Häuser. Es war ein fremdes Land“, sagt Emine Camli. Ihre wichtigste Bezugsperson ist „Mama“, die für sie alles übersetzt und ohne die sie sich nicht verständigen kann. Ihre Enkelin Ecemnur Turan, 21, sagte heute: „Das war ihr Glück, dass sie immer Hilfe hatte.“ Die andere Enkelin Ayse Camli, 29, sagt: „Das ist nichts Gutes eigentlich.“

Melek Aydindag

In der Türkei haben sie ein Haus, in Wesel wohnen sie zur Miete. Melek Aydindag ist zwei Jahre nach ihrem Mann gekommen, der arbeitet in einer Futterfabrik. Sie wollen ein bisschen Geld sparen, dann soll es zurück in die Türkei gehen. Erst wollen sie bleiben, bis die Kinder die Schule beendet haben. Dann, bis die Kinder die Ausbildung beendet haben. 2021 haben sie Enkelkinder und sind immer noch da. „Wir konnten nicht zurückgehen“, sagt Melek Aydindag.

Cahide Zaman

Bilgenur Zaman ist sieben Jahre alt, als sie mit ihrem Vater unterwegs ist und ein paar Pommes essen will. Bevor sie zu dem Wagen geht, in dem sie verkauft werden, gibt Mustafa Zaman ihr die Wörter mit auf den Weg, die sie sagen soll: „Ein Stück Pommes mit Mayo“. Bilgenur spricht, wie ihr aufgetragen wurde, aber die Verkäuferin fragt: „Du willst eine Portion Pommes?“ Bilgenur korrigiert: „Ein Stück Pommes!“

Melek Aydindag

Sie will Hähnchen kochen. Im Supermarkt irrt Melek Aydindag durch die Regale, aber sie findet keine Hähnchen. In der Türkei gibt es sie frisch an jeder Straßenecke. Dass sie bei den Deutschen in den Tiefkühlregalen liegen, weiß sie nicht, sie ist noch keine sechs Monate im Land. Sie geht zu einer Verkäuferin und macht ein Huhn nach: Gack-ack-ack. Die versteht.

Emine Camli

Ihr Sohn Vedat ist 15, als sie nach Deutschland kommen. Die Schule besucht er nicht lange, er versteht nichts. „Das erste Jahr war die Hölle“, sagt er. Er hat keine Freunde, kann kein Deutsch, wie soll er welche finden? Sein Vater ist ihm nach all den Jahren fremd geworden. „Er war oft dagegen. Da habe ich mich gefragt: Wer ist der Mann?“

Vedat Camli möchte einen Sprachkurs machen, die Kosten will eine karitative Einrichtung übernehmen. Er freut sich. Zwei Wochen später kommt ein Brief, die Finanzierung fällt aus. Warum? Weiß er nicht. Er kann kein Deutsch, um nachzufragen. Die 450 Mark im Monat kann sich die Familie nicht leisten.

Melek Aydindag

Sie lernt schnell Deutsch, weil Melek Aydindag ohne Scheu auf die Deutschen in ihrer Nachbarschaft oder die deutschen Arbeitskollegen ihres Mannes zugeht. Ihre Tochter, Nurcan, sagt: „Sie lächelt die Leute an, dann schließen sie sie ins Herz.“ Weil sie keine Verwandten in Wesel haben, werden die Nachbarn zu ihrer Familie.

Cahide Zaman

Mit ihren Kolleginnen in der Fischfabrik in Wesel verständigt sich Cahide Zaman mit Händen und Füßen. Sie feiern Geburtstage zusammen, besuchen sich gegenseitig. Am Fließband unterstützen sie sich. Wenn eine Dose mal krumm gerät, bekommt Cahide Zaman den Hinweis, sie solle sie verschwinden lassen. Der Meister müsse ja nicht alles sehen. Die Arbeit macht ihr Spaß. Sie kommt nicht bittertraurig nach Hause, sagt sie.

Emine Camli

Wenn die Arbeitskollegen ihres Mannes zu Besuch kommen, dann kocht sie für alle. Ein deutsches Ehepaar reist mit ihnen in die Türkei, dort sorgen Ali und Emine Camli fürsorglich für die beiden. Die Kollegen sind die häufigsten Kontakte zu Deutschen. Aber Emine Camli zieht sich in den Gesprächen oft zurück, weil sie die Sprache nicht beherrscht und nichts erzählen kann. Sie fühlt sich einsam.

Cahide Zaman

Es ist das Jahr 2002, als Bilgenur Zaman ein Wunder erlebt. In der Türkei war Cahide Zamans Opa das Familienoberhaupt. In die Schule brauche sie nicht gehen, befand er. Der Koran genüge als Lektüre. Deswegen kann Cahide Zaman nicht lesen und schreiben. Eines Tages also besucht Bilgenur ihre Eltern, ihre Mutter ist mittlerweile Ende 50. Die Tochter will, wie immer, die Zeitungen ihres Vaters mitnehmen, um sie später zu lesen. Aber sie darf nicht. Cahide Zaman sagt: Lass sie bitte hier, ich habe sie noch nicht gelesen. Sie hat lesen und schreiben gelernt und Deutsch, heimlich. Ihre Tochter ist stolz.

Emine Camli

Wegen einer Fehlgeburt muss Emine Camli ins Krankenhaus, aber sie haut ab. Sie versteht die Ärzte und Pfleger nicht, die Klinik bereitet ihr Angst. Also flieht sie. Camli braucht nie Deutsch sprechen. Ihre Freundin, die „Mama“, ist immer da. Mit ihr hat sie gute Tage und Zeiten, mit ihr fühlt sie sich wohl. Heute bereut sie, die Sprache des Landes, indem sie seit 50 Jahren lebt, nicht gelernt zu haben. Sehr.

Melek Aydindag

Sie leben mit fünf Personen in einer Zweieinhalbzimmerwohnung. In der Nachbarschaft wohnen viele Deutsche, im Fernsehen gibt es nur drei deutsche Sender: ARD, ZDF, WDR. Melek Aydindag lernt Deutsch, weil sie viel fernsieht und mit ihren Nachbarn sprechen will. Als die Deutschen aus der Siedlung wegziehen, in die größeren Wohnungen und Häuser, und stattdessen die Türken kommen, als die türkischen Sender in den Fernseher wandern, fängt Melek Aydindag an, die deutsche Sprache zu verlernen.

Cahide Zaman

Cahide Zaman ist 78 Jahre alt, sie lebt seit 51 Jahren in Deutschland. Sie sagt, wenn sie behaupten würde, sie sei Deutsche, wäre das eine Lüge. Sie sei Türkin und fühle sich auch so.

Emine Camli

Emine Camli ist 81 Jahre alt, sie lebt seit 41 Jahren in Deutschland. Sie sagt, sie fühle sich als Türkin. Ihre Tochter, Zeynep Turan, 52, sagt, in Deutschland seien sie die Ausländer und in der Türkei die Deutschländer.

Cahide Zaman

Mustafa Zaman, 81, sagt: „Die Türkei ist das schönste Land der Welt. Wenn ich dort einen Monat im Urlaub bin, bin ich gesund.“

Melek Aydindag

 Draußen vor dem Schaufenster:  Melek Aydindag (einmal Solo) und ihre Tochter Nurcan Aydindag in Wesel  Stehend und auf dem Stuhl:  Emine Camli (ältere Frau Mitte) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Tochter Zeynep Turan (52), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan  Sitzend auf dem Sofa: Cahide Zaman und Mustafa Zaman mit ihrer Tochter Bilgenur Zaman

Draußen vor dem Schaufenster: Melek Aydindag (einmal Solo) und ihre Tochter Nurcan Aydindag in Wesel Stehend und auf dem Stuhl: Emine Camli (ältere Frau Mitte) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Tochter Zeynep Turan (52), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan Sitzend auf dem Sofa: Cahide Zaman und Mustafa Zaman mit ihrer Tochter Bilgenur Zaman

Foto: Henning Rasche
 Draußen vor dem Schaufenster:  Melek Aydindag (einmal Solo) und ihre Tochter Nurcan Aydindag in Wesel  Stehend und auf dem Stuhl:  Emine Camli (ältere Frau Mitte) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Tochter Zeynep Turan (52), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan  Sitzend auf dem Sofa: Cahide Zaman und Mustafa Zaman mit ihrer Tochter Bilgenur Zaman

Draußen vor dem Schaufenster: Melek Aydindag (einmal Solo) und ihre Tochter Nurcan Aydindag in Wesel Stehend und auf dem Stuhl: Emine Camli (ältere Frau Mitte) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Tochter Zeynep Turan (52), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan Sitzend auf dem Sofa: Cahide Zaman und Mustafa Zaman mit ihrer Tochter Bilgenur Zaman

Foto: Henning Rasche
 Draußen vor dem Schaufenster:  Melek Aydindag (einmal Solo) und ihre Tochter Nurcan Aydindag in Wesel  Stehend und auf dem Stuhl:  Emine Camli (ältere Frau Mitte) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Tochter Zeynep Turan (52), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan  Sitzend auf dem Sofa: Cahide Zaman und Mustafa Zaman mit ihrer Tochter Bilgenur Zaman

Draußen vor dem Schaufenster: Melek Aydindag (einmal Solo) und ihre Tochter Nurcan Aydindag in Wesel Stehend und auf dem Stuhl: Emine Camli (ältere Frau Mitte) mit ihrer Familie: Vedat Camli (56), Tochter Zeynep Turan (52), Enkelin Ayse Camli (29), Enkelin Ecemnur Turan Sitzend auf dem Sofa: Cahide Zaman und Mustafa Zaman mit ihrer Tochter Bilgenur Zaman

Foto: Henning Rasche

Melek Aydindag ist 71 Jahre alt, sie lebt seit 49 Jahren in Deutschland. Sie sagt, ihre Kinder seien in Deutschland geboren, ihr Mann sei in Deutschland gestorben, sie werde auch in diesem Land sterben. Sie sagt, sie fühle sich sehr deutsch. Melek Aydindag sagt: „Ich liebe dieses Land.“

(her)
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