Eurovision Song Contest 2022 Ein ESC im Zeichen der Weltpolitik

Düsseldorf/Turin · Der 66. Eurovision Song Contest in Turin stand ganz im Eindruck des russischen Angriffskriegs in der Ukraine. Das lag nicht nur am verdienten Sieg des ukrainischen Kalush Orchestra. Die bunte Vielfalt des ESC blieb dabei dennoch nicht auf der Strecke.

Die Teilnehmer auf dem Roten Teppich beim ESC 2022
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Foto: dpa/Jens Büttner

Die Show aus Turin endete nach rund vier Stunden, wie sie in diesen Zeiten eigentlich nur enden konnte: mit den Musikern des Kalush Orchestra und ukrainischen Flaggen auf der ESC-Bühne. Der Sieg der Ukraine war bereits im Vorfeld erwartet worden. Und die Prognosen der Buchmacher trafen ein. Der Song „Stefania“ von Kalush Orchestra hatte nach der Juryabstimmung noch auf dem vierten Platz gelegen, gewann aber am Samstagabend mit überwältigendem Vorsprung die europaweite Telefonabstimmung. Die Musiker erhielten von den Zuschauern in fast allen Länders Europas die maximale Punktzahl. Das reichte mit insgesamt 631 Punkten zum Sieg.

Die Gruppe rund um Bandgründer Oleh Psiuk präsentierte auf der Turiner ESC-Bühne ein Gesamtkunstwerk aus ukrainischem Folk, modernem Hiphop, wildem Tanz und bunten Kostümen. Eigentlich als persönliches Lied an seine Mutter komponiert, wurde der Beitrag mit Zeilen wie „Ich werde immer zu dir kommen, auch wenn alle Straßen zerstört sind“ nach Kriegsbeginn zu einer Hymne der traurigen ukrainischen Realität. Ein starker Auftritt, der genau zur ernüchternden Gegenwart Europas passte.

Für das Kalush Orchestra war der ESC in Turin mehr als ein Musikwettbewerb. Die Künstler waren auf einer Mission, um die ukrainische Kultur in Europa zu präsentieren und im besten Fall den Wettbewerb für 2023 ins Land zu holen. „Wir haben die Erlaubnis, unser Land zu verlassen. Das fühlt sich wie eine große Verantwortung an, unserem Land auf eine andere Weise nützlich zu sein“, hatte Psiuk bereits nach der ersten Probe gesagt. Ein Ziel, das sie wohl auch wegen der großen Solidarität der europäischen Fernsehzuschauer erreichten.

Da hatten am Ende auch die starken Konkurrenten aus allen Teilen Europas und Australien keine Chance. Auf Platz zwei landete die großartig gesungene Ballade „Space Man“ des Briten Sam Ryder, der bei den Jurys noch in Führung gelegen hatte. Das beste britische Ergebnis seit 24 Jahren. Auf den weiteren Plätzen folgten das perfekt choreografierte „Slomo“ der Spanierin Chanel, der schwedische Popsong „Hold me Closer“ von Cornelia Jakobs und die beim Publikum erstaunlich erfolgreiche Kunstperformance der Serbin Konstrakta (“In corpore sano“)

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Alle ESC-Platzierungen 2023

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Dass es ein ESC in besonderen Zeiten ist, wurde gleich zu Beginn der Show deutlich. Ein Einspieler zeigte zunächst, wie Menschen auf der Straße gemeinsam „Give peace a chance“ singen, bevor die Kamera auf das Livepublikum in der Turiner Halle umschaltete. Ein beeindruckendes Friedenssymbol als Einstieg. Emotional wurde es auch, als Oleh Psiuk nach dem Auftritt des Kalush Orchestra an die Lage in Mariupol erinnerte und um schnelle Hilfe für die im Azovstal-Werk eingeschlossenen Menschen bat. Wenn es auch ein Regel-Grenzfall beim eigentlich „unpolitischen“ ESC war. Selbst während der Auftritte der übrigen Teilnehmer waren immer wieder ukrainische Flaggen zu sehen, so etwa auf der Gitarre des deutschen Teilnehmers Malik Harris.

Die gesamte Show kam reduzierter daher als in manch vergangenen Jahren. Eine Bühne, die nicht für die größten Wow-Effekte sorgte, aber an deren Rand ein kleiner Wasserfall plätscherte. Dazu ein „Green Room“, der aus echten Pflanzen bestand. Und ein Moderatorentrio rund um Popstar Mika, das sich in der ESC-Woche irgendwie durch die Proben improvisierte und trotzdem bei den Live-Shows einen entspannten und professionellen Eindruck hinterließ. Auch das Rahmenprogramm mit Auftritten italienischer ESC-Stars wie den Vorjahressiegern Maneskin kam eher dezent daher. Ein weiteres schönes Symbol waren die Herzflaggen, die das Publikum während des Auftritts von Moderator Mika schwenkte.

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Positiv stach in diesem Jahr das musikalische Niveau der 25 Finalteilnehmer hervor. Kaum schiefe Töne, stattdessen perfekte Inszenierungen und dabei doch die gewohnte Vielfalt, die den ESC so besonders macht. Es gab einen bretonischen Hexentanz aus Frankreich, eine wilde Dorfrockdisco aus Moldau und wolfsartige Aliens aus Norwegen. Es war aber auch ein Jahrgang der ruhigen, der melancholischen Töne.

Während in den Halbfinals am Dienstag und Donnerstag manch klassisch-opulenter ESC-Song ausschied, konnten sich erstaunlich viele sehr dezent inszenierte Beiträge für das Finale qualifizieren. Die besonderste Ballade lieferte dabei sicherlich der zweitplatzierte Brite. Aber auch die ruhigen Lieder aus Italien, Griechenland, Portugal und der Niederlande konnten sich im vorderen Feld einfinden, ebenso wie die auffälligen Auftritte aus Moldau und Norwegen.

Das gelang den Deutschen wieder einmal nicht. Dabei war „Rockstars“ von Malik Harris der mit Sicherheit beste deutsche Beitrag seit dem vierten Platz vom Michael Schulte beim ESC 2018. Doch schon im Vorfeld sah es für ihn schlecht aus. Erst die Diskussionen um die Vorentscheid-Ausbootung der Metalcore-Band Electric Callboy, dann seine Rolle als Schlusslicht in den internationalen Wettquoten. Da half auch ein ordentlicher Auftritt mit leichtem Texthänger nichts, der sehr schön als Ein-Mann-Wohnzimmer-Show inszeniert wurde. Der eher unauffällige Popsong mit Hiphop-Einflüssen landete am Ende mit sechs Punkten auf dem 25. und letzten Platz.

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Die deutschen ESC-Teilnehmer seit Lenas Sieg

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Foto: dpa/Christoph Soeder

Eine Niederlage mit Ansage, die vielleicht ja im kommenden Jahr endlich mal für ein Umdenken beim in Deutschland ausrichtenden NDR sorgt. „Ich weiß, dass man nicht allzu viele Punkte geholt hat, aber es war trotzdem ein schöner Abend“, sagte Harris in seinem ersten Interview nach dem ESC in der ARD.

Wie der Eurovision Song Contest 2023 aussehen wird, ist so unklar wie selten zuvor. Die Ukraine wird wohl alles daran setzen, den Wettbewerb im eigenen Land auszurichten. Sicher scheint auch, dass dann Russland und Belarus erneut nicht dabei sein werden. Einen „normalen“ ESC wird es sicherlich auch im kommenden Jahr nicht geben. Für das vom Krieg gebeutelte Land wird dieser 14. Mai 2022 allerdings als ein Abend der Hoffnung in die Geschichte eingehen. Auch wenn es nur der Sieg in einem Musikwettbewerb war.

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