Herr Urban, während in Turin gesungen und getanzt wird, herrscht mitten in Europa Krieg. Wie schwer fällt es Ihnen dieses Jahr, unbeschwerte ESC-Vorfreude zu entwickeln?
ESC-Kommentator Peter Urban „Unser Song ist unendlich viel besser als der im letzten Jahr“
Interview | Düsseldorf/Turin · ESC-Kommentator Peter Urban spricht im Interview über seine diesjährigen Favoriten, die besondere Rolle der Ukraine, die Kritik am deutschen Vorentscheid und die Chancen des deutschen Teilnehmers Malik Harris.
Peter Urban Es gibt da zwei Möglichkeiten: Entweder man macht einen besonderen ESC, bei dem ständig an die Tragödie erinnert wird oder man lässt sich von dem russischen Aggressor nicht den Spaß am Leben verderben. Ich glaube, dass man einen Mittelweg finden muss. Mir fällt es nicht ganz leicht, weil ich doch sehr betroffen bin von dieser Entwicklung. Mein ganzes Leben lang habe ich gedacht: Wie wunderbar ist es, dass wir im Gegensatz zu unseren Eltern in Frieden leben können. Und jetzt müssen wir für einen Teil Europas sagen: konnten.
Urban Die Frage ist, ob man den Wettquoten glauben kann. Natürlich herrscht in Europa eine große Solidarität und Sympathie für die Ukraine und das wird sich sicherlich auch in der Stimmabgabe auswirken. Den Ukrainern ist aber nicht geholfen, wenn sie viele Punkte beim ESC erzielen. Die brauchen andere Hilfe und Solidarität. Insofern denke ich eigentlich nicht, dass die Ukraine gewinnen wird. Ich hoffe aber, dass während der Show der dringende Wunsch nach Frieden und die internationale Unterstützung für die Ukraine in ihrem Kampf gegen diese brutale Aggression sehr deutlich werden. Der ESC bleibt aber ein Musikwettbewerb. Da soll der beste Song oder die beste Performance gewinnen. Wenn es anders kommt, kann ich es auch nicht ändern. Dann ist das eben die Realität, die herrscht.
Jetzt hat es im vergangenen Jahr mit Jendrik wieder nur für den vorletzten Platz für Deutschland gereicht. Was macht Sie denn hoffnungsfroh, dass es dieses Jahr mit Malik Harris anders wird?
Urban Mit den Voraussagen wollte ich mich eigentlich zurückhalten. Aber die Sache liegt klar auf der Hand: Der Song ist unendlich viel besser als der im letzten Jahr und von Malik Harris in einem Stil gespielt und gesungen, der in diesem Jahr beim ESC nicht so oft vorkommt.
Dann kann ja eigentlich nichts mehr schiefgehen.
Urban Jetzt kommt das Wertungssystem des ESC ins Spiel. Malik gehört sicherlich nicht zu den Topfavoriten. Jedes Land und jede Jury stimmen über 25 Kandidaten ab, aber nur die ersten Zehn in jedem Land erhalten Punkte. Der Elfte kriegt null Punkte. Du kannst 40 Mal im guten Mittelfeld landen und hast immer noch keine Punkte. Insofern ist dieses System ungerecht, das prangern wir schon länger an. Gerechter wäre ein System, in dem jeder von Platz 25 bis Eins Punkte erhält. Das ist einer der Gründe, warum wir oft vielleicht ganz gut im Mittelfeld landen, aber doch wenig Punkte haben.
Nun gibt es aber dieses Wertungssystem und das ist ja auch zum Teil der Grund, warum viele Fans oft so kritisch sind. Die deutschen Beiträge waren selten die allerschlimmsten, aber sie waren vielleicht zu selten das Besondere.
Urban Das ist ein Grundsatz, der richtig ist. Um zu gewinnen und ganz nach vorne zu kommen, musst du einen besonders guten Song, Auftritt, Gesang und viel Charisma anbieten. Lena ist dafür das Musterbeispiel. Sie ist vielleicht nicht die größte Sängerin, aber sie hatte eine großartige Ausstrahlung und einen passenden Song. Das sind diese Dinge, die zusammenkommen müssen. Das muss so ein Titel, der ganz nach vorne kommen will, abliefern.
Damit hängt auch zusammen, warum jetzt Malik Harris wieder umstritten ist. Die Metalcore-Band „Electric Callboy“, die mit ihrer ESC-Bewerbung viel Aufmerksamkeit erzeugt hat, galt vielen Fans als etwas Besonderes. Als Beitrag, der sicher polarisiert hätte. Konnten Sie den Ärger verstehen, als die Band gar nicht erst zum Vorentscheid zugelassen wurde?
Urban Ehrlichgesagt bin ich da überhaupt nicht im Film. Ich habe das gelesen, habe mit der Vorentscheid-Auswahl aber nichts zu tun und halte es auch für irrelevant für die Chancen des jetzigen Teilnehmers, der sicherlich der beste war von denen, die angetreten sind. Es interessiert im Ausland niemanden, ob es eine andere Band gab, die gehypt wurde. Das ist doch Schnee von gestern. Ich bin sehr für Vielfalt und ich kann auch sagen, dass mir persönlich die Vielfalt in der Auswahl der sechs Kandidaten etwas fehlte.
Genau das war ja das Argument.
Urban Da stimme ich sogar zu. Aber erstens halte ich von Online-Abstimmungen nichts, weil die können leichter beeinflusst werden. Mir ist dann schon lieber: Da wird angerufen. Zweitens ist Malik Harris auf jeden Fall der beste Kandidat. Man kann jetzt nicht ständig sagen: Da haben sich auch andere beworben.
Trotzdem gab es eine Petition mit rund 130.000 Unterschriften echter Menschen. Das spricht dafür, dass viele Fans glauben, dass der NDR etwas falsch macht im Vorauswahl-Prozess. Können Sie, unabhängig von Malik Harris, verstehen, dass sich da ein gewisser Ärger angestaut hat nach dem Motto: Uns wurde Vielfalt versprochen, aber nicht geliefert?
Urban Darüber wird sicher diskutiert. Ich fand die Idee, dieses Mal das mit den Radiosendern zu machen, schlüssig. Der Song soll ja auch im Radio laufen und bekannt gemacht werden – und hat dort tatsächlich großen Erfolg. Natürlich kann man darüber streiten, ob es vielfältig genug gewesen ist. Aber wie gesagt, das war und ist auch nicht mein Job. Ich bin froh, dass wir diesen Kandidaten haben. Der gefällt mir besser als manches andere in den letzten drei Jahren.
Sie haben eben schon gesagt, dass Sie nicht glauben, dass die Ukraine gewinnen wird. Was sind denn Ihre Favoriten?
Urban Das sind die, die bei den Wetten auch mit oben stehen. Italien ist sicherlich ganz stark, das ist ein ziemlich eindrucksvolles Duett. Mein persönlicher Liebling ist Großbritannien, das dieses Mal wirklich einen fantastischen Sänger schickt und einen bärenstarken Song. Wenn die Dinge gerecht zugehen, dann müsste der eigentlich unter den ersten Drei sein.
Viele Menschen schauen den ESC gerne wegen der skurrilen und ausgefallenen Beiträge. Gibt es da etwas Besonderes, auf das sich die Zuschauer dieses Jahr freuen können?
Urban Nicht so viel. Für den Kommentator ist das Leben etwas schwieriger geworden. Die sind alle höchst professionell, sehen alle sehr gut aus. Seltsam ist der Beitrag aus Serbien einer Interpretin, die sich ständig die Hände trockenwischt und davon singt, dass man nicht so viele Medikamente nehmen und lieber die Reinheit des Körpers heilen lassen soll. Das ist, sagen wir mal, der anthroposophische Ansatz. Darüber kann man nun auch streiten. Aber der Auftritt ist wie aus einem Theaterstück und wird sicherlich für Aufsehen sorgen.
Liegt das auch so ein bisschen daran, dass der ESC einfach musikalisch besser geworden ist und man mit einem schrillen Song nicht mehr so viel erreichen kann wie früher?
Urban Früher ist es so gewesen, dass man mit irgendwelchen komischen Klamotten und Choreografien noch groß punkten konnte. Das hat sich dahin verschoben, dass die Qualität der Musik und des Gesangs sehr gut sein muss. Die schrägen Sachen scheiden eher in den Halbfinals aus. Das macht es für das Finale oft ein bisschen weniger skurril, aber die Qualität ist eindeutig höher. Schauen wir uns doch nur das Endergebnis aus dem vergangenen Jahr an: Unter den ersten zwölf Plätzen findet man nur eine Nummer, die man zum Mainstream zählen könnte. Gewonnen hat italienischer Hardrock vor einem französischen Chanson. Dann gab es intelligenten Pop aus Island, eine Mischung aus Ethno und Techno aus der Ukraine, eine Hiphop-Nummer über die Geschichte der russischen Frauenbewegung. Da waren nur musikalisch spannende Sachen drin.
War der Sieg von Maneskin letztes Jahr ein besonderer Segen für den ESC? Eine Band, die bei Jugendlichen stilprägend ist und danach auf großen Festivals spielt, gab es lange nicht mehr als Gewinner.
Urban So einen Durchbruch gab es eigentlich seit Abba nicht mehr. Eine Band, die dann in Amerika absolut abgeht und dort auf dem Coachella, dem größten Musikfestival, spielt, das ist schon ein Ereignis. Dass sie durch den ESC erst international bekannt geworden sind, ist natürlich wunderbar. Und in der Tat hat dieser Sieg sehr viel junges Publikum begeistert. Ein Publikum, das sonst den ESC gar nicht auf der Rechnung hatte.
So etwas in dem Sinne stilprägendes gibt es dieses Jahr aber eher nicht, oder?
Urban Wie gesagt, diese britische Ballade ist ein absoluter Tophit. Manchmal weiß man diese Dinge aber auch erst nachher. Letztes Jahr habe ich bei Maneskin auch nur gedacht: Das ist eine gute Nummer, die kann weit oben landen. Aber dass sie absolut beherrschend ist, hätte ich auch nicht gesagt. Da ist man nach dem ESC oft schlauer.
Sie haben eben schon gesagt, Sie wollen nicht tippen. Aber ich muss die Frage zum Abschluss natürlich stellen: Wo landet Deutschland dieses Mal?
Urban Ich sagte ja, die Probleme liegen echt am Wertungsproblem. Ich bin sicher, dass wir in den einzelnen Wertungen oft in der Mitte landen werden. Es kann aber sein, dass sich das nicht in den Punkten auszahlt und wir trotzdem irgendwo unten hängen. Ich fände Platz 15 toll. Wenn das gelingt, wäre es klasse. Der Typ hat es echt verdient.
Für große Hoffnung spricht das aber nicht.
Urban Große Hoffnungen hatte ich auch bei Michael Schulte nicht und der wurde Vierter. Ich lasse mich gerne überraschen, aber ich bin echt kein Hellseher. In den letzten Jahren hat mein Ruf auch gelitten, weil ich immer treu und brav zum deutschen Beitrag stehe. Das ist, finde ich, auch meine Aufgabe als deutscher Kommentator. Ob es dann erfolgreich ist, weiß ich nicht.