„Germany 12 Points“ Ein ESC-Beitrag als Schadensbegrenzung
Meinung | Berlin · Malik Harris heißt der Sieger eines schwachen deutschen Vorentscheids. Nachdem die vielversprechendsten Bewerber bereits im Vorfeld aussortiert worden waren, sorgte eine ukrainische Sängerin für den Höhepunkt des Abends.

So lief der deutsche Vorentscheid zum Eurovision Song Contest
Der deutsche ESC-Fan ist mittlerweile einiges gewohnt. Letzte Plätze, misslungene Formate, krude Auswahlprozesse. Und doch schafft es der ausrichtende Norddeutsche Rundfunk (NDR) immer wieder, neue Tiefpunkte zu setzen. Dabei sollte in diesem Jahr alles besser werden: Ungeahnte musikalische Vielfalt versprachen die Entwickler des neuen Formats in Zusammenarbeit mit den öffentlich-rechtlichen Radiostationen. Am Ende war „Germany 12 Points“ eine Show mit sechs radiotauglichen Popsongs, bei der es mit Malik Harris und „Rockstars“ einen vertretbaren Sieger gab.
Auch wenn der Auftritt des 24-jährigen Sohns von Talkshow-Legende Ricky Harris live zunächst nicht so ganz verfangen wollte, war es doch die reifste und modernste Pop-Nummer des Abends. Das sahen auch die Fernsehzuschauer so, die „Rockstars“ mehrheitlich zum deutschen Teilnehmer für den Eurovision Song Contest 2022 wählten. Bei der Radio-Abstimmung im Vorfeld der Show hatten noch „Maël & Jonas“ mit ihrem nach Teenie-Rockband klingenden „I Swear to God“ vornegelegen.
Mit Keyboard und Gitarre ausgestattet, stand Harris ganz alleine gleich als erster Starter auf der Bühne, wirkte dabei teilweise ein wenig verloren und kam nur im stark an einen Eminem-Klassiker erinnernden Rap-Teil des Songs wirklich aus sich heraus. Dennoch: Mit einer verbesserten Show könnte anders als mit den meisten anderen Vorentscheid-Teilnehmern beim Finale am 14. Mai in Turin dieses Mal nicht der letzte Platz für Deutschland winken.
Es war auf jeden Fall nicht die schlechteste Wahl an einem musikalisch dünnen Abend, mit sechs zum Großteil beliebigen Kompositionen. Hinzu kam, dass deren Interpreten auch noch live nicht alle stimmlich überzeugen konnten und, wie im Fall von Teilnehmerin Emily Roberts, sogar ihren Text vergaßen. Dabei wurde überdeutlich, dass der NDR für seine Songauswahl im Vorfeld zurecht kritisiert wurde. Denn dass das neue Konzept unter Beteiligung der ARD-Radiowellen kein Publikumserfolg wird, war schon vor dem Vorentscheid klar. Gerade weil es erstmals seit Jahren wieder so etwas wie einen Hype um einen möglichen deutschen Vertreter gab.
Die Metalcore-Band „Eskimo Callboy“ hatte sich als eine von insgesamt 944 Künstlern beworben, unter anderem mit „Pump It“, einer wilden Mischung aus harten Klängen und quietschbuntem 80er-Pop. Ein Auftritt wie für die kurzen drei ESC-Minuten gemacht. Das Video zum Song wurde bei Youtube bislang mehr als neun Millionen Mal geklickt, und Deutschland stieg zum Wett-Mitfavoriten für den Wettbewerb in Turin auf. Doch die Radio-dominierte Jury entschied sich in der Vorauswahl gegen Eskimo Callboy und für sechs vermeintlich radiotauglichere Vertreter. Daran änderte auch eine Petition nichts mehr, trotz der für deutsche ESC-Verhältnisse schier unglaublichen Zahl von knapp 130.000 Unterzeichnern (Stand Freitag).
Doch auch wenn der Vorentscheid mit Eskimo Callboy musikalisch vielfältiger gewesen wäre, am Höhepunkt hätte sich nichts geändert. Die Ukrainerin Jamala sang in der Abstimmungspause „1944“, ihren ESC-Siegersong von 2016. Schon damals thematisierte das Lied Flucht, Vertreibung und das Sterben im Krieg. Da stand Jamala nun, gerade erst selbst geflüchtet, mit der ukrainischen Flagge in der Hand und Tränen in den Augen. Als sie danach eindrucksvoll und sichtbar verzweifelt von ihren Kriegserfahrungen berichtete, war sie nicht mehr die einzig erkennbar Gerührte im Fernsehstudio.
Eine Szene, die im krassen Kontrast zum Fremdschäm-Begrüßungssong (“Ohlala, wir fahren nach Italia“) von Moderatorin Barbara Schöneberger voller Italienurlaub-Klischees stand. Überhaupt schien das ganze Konzept der Show angesichts des Ukraine-Kriegs nicht bedächtiger, sondern eher noch peinlich-aufgedrehter zu sein. Waren es die Coversongs mit Comedian Bülent Ceylan oder das Experten-Sofa, das dem Vorentscheid die Grundstimmung einer zweitklassigen Castingshow verlieh. Nicht nur die Songauswahl, auch das Showkonzept war doch sehr eindimensional.
Wie der NDR das erneute PR-Desaster um das neue Vorentscheid-Konzept überstehen wird, liegt nun auch am Abschneiden des Deutsch-Amerikaners Malik Harris. Schafft er ein halbwegs ordentliches Ergebnis, können sich die Verantwortlichen ihr Konzept vielleicht noch einmal schönreden. Aber selbst dann bleibt die Hoffnung, dass die deutschen ESC-Verantwortlichen nach ein paar Jahrzehnten Erfahrung doch endlich einmal verstehen, dass der größte Musikwettbewerb der Welt etwas anderes ist als die Suche nach einem netten Radiosong.
Bis dahin bleibt die Vermutung, dass in Deutschland wohl auch die italienischen Vorjahressieger von Måneskin (“Zitti E Buoni“) wegen ihres zu rockigen Songs und der zu gewagten Outfits in der Vorauswahl aussortiert worden wären.