Vor den November-Länderspielen Das sind die Problemzonen der Nationalmannschaft

Leipzig · Vor den letzten drei Länderspielen des Jahres hakt es in der Fußball-Nationalmannschaft vor allen Dingen im Abwehrverhalten. Der Bundestrainer verspricht: Wir spielen auf Sieg.

Mo Dahoud (l.) und Nico Schulz im DFB-Training.

Mo Dahoud (l.) und Nico Schulz im DFB-Training.

Foto: dpa/Robert Michael

Es hat schon prominenter besetzte DFB-Aufgebote gegeben. Üppig ist vor den letzten drei Länderspielen des denkwürdigen Jahres 2020 allein die Liste der Absagen. Es fehlen Joshua Kimmich, Thilo Kehrer, Marcel Halstenberg, Julian Draxler, Kai Havertz, Suat Serdar, Emre Can und Niklas Süle. Deshalb rücken bislang ungekrönte Häupter wie Ridle Baku (Wolfsburg), Philipp Max (PSV Eindhoven) und Felix Uduokhai (Augsburg) nach.

Vor allem im Testspiel gegen die Tschechen am Mittwoch in Leipzig (20.45 Uhr/RTL) wird eine nicht so namhafte Truppe auf dem Platz stehen, weil Bundestrainer Joachim Löw den in der Champions League gestressten Stars eine Pause einräumt. Sie kommen erst in den Nations League-Begegnungen mit der Ukraine (ebenfalls Leipzig, Samstag, 20.45 Uhr/ZDF) und Spanien (Dienstag, Sevilla, 20.45 Uhr/ARD) zum Zug. Beim ersten Training standen acht Mann auf dem Platz. Ob es Löw unter solchen Bedingungen gelingt, entscheidende Schritte bei der Bewältigung seiner Probleme zu tun, ist zumindest fraglich. Wo die Probleme liegen, steht dagegen fest. Wir nennen die wichtigsten.

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Foto: dpa/Marco Steinbrenner

Abwehr(-verhalten). Fünf Spiele hat Löws Team im Corona-Jahr gespielt, ohne Gegentor blieb es nie. Besonders freundlich war die Abteilung Defensive in den Begegnungen mit der Türkei und der Schweiz. Jeweils drei Gegentore gestatteten die Deutschen ihren Kontrahenten, beide Partien endeten mit 3:3 und der Frage: Wie kann es sein, dass das Abwehrdrittel des Weltmeisters von 2014 zum Selbstbedienungsladen geworden ist? Dafür gibt es zwei Erklärungen. Die eine wird von geplagten Fußballlehrern gern vorgetragen. Sie lautet: Am Abwehrspiel sind nicht nur die armen Teufel in der letzten Reihe beteiligt, die nach kleinen Schützenfesten immer heftig ausgeschimpft werden. Das Abwehrverhalten ist eine Aufgabe für das Kollektiv, die gesamte Mannschaft muss sich beteiligen. Wenn große Lücken zwischen den Mannschaftsteilen klaffen, wenn die Abstände zwischen den vielzitierten Linien nicht stimmen, wenn sich hochbegabte Offensivkräfte lieber nicht an defensiver Drecksarbeit beteiligen, dann geht das nach hinten los. Löw gibt dem engen Terminkalender die Schuld. Der verhindere ausgiebige Trainingszeiten und damit die „Möglichkeit, Automatismen einzuüben“. Nicht falsch, aber nicht die ganze Wahrheit. Denn Löw unterschlägt, dass er vor und während der Spieler durchaus Einfluss nehmen könnte.

Die zweite Erklärung für das deutsche Entgegenkommen im eigenen Verteidigungsdrittel führt zum eigentlichen Abwehrpersonal. Da tummeln sich Spieler, die in den eigenen Vereinen auf der Bank sitzen (Antonio Rüdiger), die dem Anspruch, internationale Spitzenklasse zu bieten, aus unterschiedlichen Gründen noch nicht gerecht wurden (Niklas Süle) oder die nicht einmal gelernte Innenverteidiger sind (Emre Can). Dass Süle und Can an der Dreierserie am Jahresende, die der DFB hochtrabend „Tripleheader“ nennt, nicht mitwirken können, ist dabei ohne Bedeutung.

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Foto: AFP/ANNE-CHRISTINE POUJOULAT

Löw ist beharrlich genug (manche würden sagen stur genug), keinen Gedanken an die Rückkehr der Weltmeister Mats Hummels und Jerome Boateng zu verschwenden. Beide bieten in ihren Klubs in Dortmund und München starke Leistungen. Aber Löw stellt im Interview mit dem „Kicker“ fest: „Wir haben uns grundsätzlich entschieden, diese Spieler nicht zu nominieren, daran hat sich nichts geändert. Wir können das jetzt nicht rückgängig machen.“ Eine kleine Tür hält er sich selbst offen: „Wenn sich durch Ausfälle von Schlüsselspielern bei uns eine neue Situation ergibt, werde ich das entsprechend bewerten.“

Die Systemfrage. Noch hat Löw nicht entschieden, ob er auf die international inzwischen flächendeckend betriebene Dreier- oder auf eine Viererkette setzen soll. Zuletzt gab es mal wieder die Rückkehr zur Viererkette. Das hat vor allem dem Gegner Schweiz gefallen, weil sie ihm reichlich Entfaltungsräume gestattete. Auch hier geht Löws Klage, es fehle die Zeit, Automatismen einzuspielen, ins Leere. Wenn er eine Idee für die defensive Ordnung hat, dann muss er sie durchziehen. Im Verzicht auf Hummels, Boateng (und Thomas Müller) ist er ja auch konsequent.

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Foto: dpa, nic

Die Außenverteidiger. Das Land von Philipp Lahm und Andreas Brehme hat keine Außenverteidiger oder defensive Außenspieler von Weltklasse mehr. An diesem Befund kommt niemand vorbei. Die brav ackernden Leipziger Lukas Klostermann und Marcel Halstenberg sind keine Lösung auf höchstem Niveau, Thilo Kehrer, Robin Gosens und Nico Schulz auch nicht – zumindest bis jetzt nicht. Der beste Außenverteidiger ist Joshua Kimmich. Aber den braucht der Coach im Mittelfeld. Beklagenswert ist an dieser Situation vor allem die Tatsache, dass es nicht einmal ausgemusterte Weltmeister von 2014 auf dieser Position gibt, die mit ihren Leistungen öffentlichen Druck erzeugen könnten. Löw könnte über diese Situation das sagen, was er vor acht Jahren in ziemlich unfreundlicher Art über Marcel Schmelzer von Borussia Dortmund sagte: „Viele Alternativen gibt es nicht, also müssen wir mit Marcel Schmelzer weiterarbeiten.“ Mittlerweile ist der Bundestrainer zu sehr Diplomat. Er denkt so etwas nur noch.

Die Mentalität. Für die Mentalität von Fußballern gilt sinngemäß, was der Jahrhunderttorjäger Gerd Müller über das Toreschießen gesagt hat: „Des kannst, oder des kannst nicht.“ Mentalität hat einer, oder er hat sie nicht. Es gibt die sogenannten „Mentalitätsmonster“ wie Kimmich. Der kann auch in der Nationalmannschaft eine führende Rolle spielen und dafür sorgen, dass es nicht zu gemütlich wird auf dem Platz oder im Team. Allerdings jetzt erst einmal nicht. Der Münchner hat sich am Knie verletzt und wird wohl in diesem Jahr nicht mehr spielen. In seiner Bundesligamannschaft steht ein weiteres Mentalitätsmonster. Thomas Müller ist ein entscheidender Faktor bei Bayern Münchens unaufhörlicher Titeljagd. Bei seinem Trainer Hansi Flick ist er in die Weltklasse zurückgekehrt, auch weil er so ein mitreißender Typ ist. Aber er spielt bei Löw (siehe oben) ebenfalls keine Rolle mehr.

Das ist ein Jammer, vor allem, wenn man Löws eigenen Anspruch zugrundelegt, der möglichst bis zur EM im kommenden Sommer erfüllt sein soll: „Es geht ums allerhöchste Level, wenn man an die Weltspitze zurückkehren möchte.“ Einstweilen gibt der Bundestrainer bescheidenere Ziele an. „Wir haben die Chance“, erklärt er, „mit guten und erfolgreichen Spielen ein sportliches Ausrufezeichen zum Abschluss dieses schweren Jahres zu setzen.“ Und: „Wir spielen auf Sieg.“ Dann ist’s ja gut.

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