Analyse der Forschungsgruppe Wahlen Diese Themen und Stimmungen entschieden die Europawahl

Düsseldorf · Union und SPD sind bei der Europawahl abgewatscht worden, die Grünen dagegen feiern ein Rekordergebnis. Welche Themen und Stimmungen in der Bevölkerung waren dafür entscheidend? Die Analyse der Forschungsgruppe Wahlen.

 Wähler bei der Europawahl in Hamburg.

Wähler bei der Europawahl in Hamburg.

Foto: dpa/Daniel Bockwoldt

Bei der Wahl zum Europäischen Parlament sind Union und SPD in Deutschland auf historische Tiefststände gefallen, die Grünen werden mit einem Rekordergebnis erstmals zweitstärkste politische Kraft bei einer bundesweiten Wahl. Die AfD legt zu, Linke und FDP bleiben schwach, die sonstigen Parteien verzeichnen viel Zuspruch. Die Wahlbeteiligung steigt bei einer ungewohnt starken europapolitischen Komponente der Wahl sichtbar an.

Verantwortlich für die Unionsverluste und das Desaster der Sozialdemokraten sind Defizite beim allgemeinen Ansehen der Parteien, bei der Bewertung von Regierungsarbeit, Sachkompetenz und Spitzenpersonal. Zwar werden die Europa-Kandidaten von Union und SPD, Manfred Weber (1,4 auf einer Skala von minus fünf bis plus fünf) und Katarina Barley (1,1), positiv bewertet, haben wegen ihrer geringen Bekanntheit aber nur bedingt Zugkraft entwickelt. Die beiden Parteivorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer (0,6) und vor allem Andrea Nahles (minus 0,2) bleiben schwach: Nur 22 Prozent der Befragten bewerten die CDU-Chefin und nur 16 Prozent die SPD-Vorsitzende als hilfreich für das Abschneiden ihrer Partei. 38 Prozent sehen für die Union diese Hilfe in Angela Merkel, die beim Image (1,3 gegenüber 2,3 vor fünf Jahren) aber weit weniger überzeugt als bei der vergangenen Europawahl.

Während 66 Prozent meinen, dass traditionell-konservative Positionen in der CDU zuletzt eine „zu große Rolle“ spielten, profitieren die Grünen von erheblich gewachsener Akzeptanz in der politischen Mitte: Mit viel Reputation auch in anderen politischen Lagern stehen die Grünen nach Ansicht von 52 Prozent der Befragten für eine „moderne, bürgerliche Politik“. Beim Parteiansehen auf unserer Skala haben die Grünen mit 1,2 (2014: 0,2) die CDU (1,2; 2014: 1,7) eingeholt und die SPD (0,8; 2014: 1,5) sichtbar überholt; bei den Kompetenzen im Bereich Klimaschutz werden Union und Sozialdemokraten von den Grünen regelrecht deklassiert.

Zudem wird die Arbeit der großen Koalition in Berlin deutlich schwächer bewertet (0,5; 2014: 1,3); speziell europapolitisch fühlen sich zudem weniger Wähler von Union oder SPD vertreten als vor fünf Jahren. 42 Prozent der Befragten kritisieren zu wenig Einsatz der Bundesregierung für ein starkes Europa („zu viel“ sagen 13 Prozent, „gerade richtig“ 40 Prozent) – und das bei einer Europawahl, bei der die Politik in Europa für die Wähler erstmals wichtiger war als die Bundespolitik (56 zu 38 Prozent gegenüber 40 zu 54 Prozent vor fünf Jahren).

Flankiert von vielen auch europaweit wichtigen Themen wie Flüchtlingen, Klimawandel, (Rechts-)Populismus oder Brexit interessieren sich jetzt 63 Prozent stark für die Wahl und 49 Prozent stark für Europapolitik (2014 sagten das 40 beziehungsweise 33 Prozent). 71 Prozent (2014: 56 Prozent) halten inzwischen Entscheidungen des Europaparlaments persönlich für wichtig. Zwar sind nur 39 Prozent (2014: 26 Prozent) zufrieden damit, wie in Europa Politik gemacht wird. Doch mit 55 Prozent (2014: 32 Prozent) sehen so viele wie noch nie direkt vor einer Europawahl in der EU-Mitglied­schaft Vorteile für die Deutschen.

Gegenläufig zur proeuropäischen Grundstimmung in Deutschland insgesamt sehen die AfD-Anhänger die EU-Mitgliedschaft eher kritisch, beklagen zu viel Einfluss der EU und fordern mehr nationale Eigenständigkeit. Für 63 Prozent der AfD-Wähler (unter allen Befragten sind es nur zehn Prozent) sind „die Rechtspopulisten in Europa die Einzigen, die sich um die wirklichen Interessen der Bürger kümmern“. Dagegen sehen unter allen Befragten 80 Prozent im Erfolg europakritischer, populistischer und rechter Parteien ein großes Problem für die EU.

Beim Ansehen der Parteien können sich Linke (minus 0,4; 2014: minus 0,9) und FDP (0,2; 2014: minus 1,0) verbessern, allerdings ohne zu überzeugen. Das Image der AfD ist seit ihrem ersten großen Erfolg bei der vergangenen Europawahl mit minus 3,1 (2014: minus 1,5) nochmals klar schlechter geworden; nach Meinung von 79 Prozent ist rechtsextremes Gedankengut in der AfD weit verbreitet. Den stärksten Zuspruch erhält die AfD wie gewohnt bei Männern mittleren Alters, im Osten liegt sie bei den männlichen Wählern auf CDU-Niveau. Die Freien Wähler schneiden in allen Altersgruppen ähnlich ab, die Tierschutzpartei kommt bei den 18- bis 29-Jährigen auf vier Prozent, „Die Partei“ holt dort neun Prozent.

CDU und CSU verdanken ihren Wahlsieg noch mehr als zuletzt der älteren Generation: Unter den beteiligungsstarken über 60-jährigen Wählern holen sie 39 Prozent, bei den 18- bis 29-Jährigen brechen sie auf gerade noch 13 Prozent ein. Die Grünen werden nicht nur bei den 18- bis 29-Jährigen mit 29 Prozent klar stärkste Kraft, sondern liegen jetzt auch bei allen unter 60-jährigen Wählern knapp vor der Union (25 beziehungsweise 22 Prozent). In der Generation 60 plus bleiben die Grünen mit 13 Prozent dagegen schwach. Die SPD schafft bei den ab 60-Jährigen noch 22 Prozent, von allen unter 60-Jährigen wählen gerade noch zwölf Prozent SPD.

Obwohl sich grundlegende Trends aus anderen Wahlen bestätigen, taugt die Europawahl nur bedingt als Stimmungstest für den Bund: Bei nur wenig Parteien- und Personenwettbewerb, ohne Sperrhürde und ohne koalitionstaktische Motive bleibt die Europawahl ein Unikat. Angesichts von länderübergreifend wichtigen Themen, deutlich mehr Europabewusstsein und mehr Beteiligung hat sich der Nebenwahl-Charakter aber klar abgeschwächt.

Die Zahlen basieren auf einer telefonischen Befragung der Forschungsgruppe Wahlen unter 1123 zufällig ausgewählten Wahlberechtigten in Deutschland in der Woche vor der Wahl sowie auf der Befragung von 54.054 Wählerinnen und Wählern am Wahltag.

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