50 Jahre Kommunale Neugliederung Als „Kreis Heinsberg“ noch ein Arbeitstitel war

Erkelenzer Land · Die kommunale Neugliederung vor 50 Jahren hat die Stadtgrenzen neu gezogen. Für beträchtlichen Ärger in Erkelenz sorgte ein Vorschlag, der im Düsseldorfer Landtag verhandelt und mit nur einer Stimme Mehrheit beschlossen wurde.

 Am 6. Oktober 1971 bestiegen Mitglieder des Landtagsausschusses für die Neugliederung in Wegberg den Bus zu einer Rundreise.

Am 6. Oktober 1971 bestiegen Mitglieder des Landtagsausschusses für die Neugliederung in Wegberg den Bus zu einer Rundreise.

Foto: Archiv Spichartz

„Die künftigen Historiker werden sich in vierzig, fünfzig Jahren auch mit dem befassen, was die Bürger und vor allem die Kommunalpolitiker des Kreises Erkelenz seit 1966 bewegte. In jenem Jahr nämlich wurden die Oberkreisdirektoren vom Innenministerium aufgefordert, ihre Vorstellungen zur kommunalen Neuordnung zu unterbreiten.“ Nun ja, Propheten sind im Religions-Verständnis ja Weitersager, Ankündiger von Gottes-Thesen, ob diese eintreffen oder auch nicht. Vielleicht ist es da wie mit der Trefferquote des berüchtigten Wettergottes – sie ist immer noch sehr überschaubar.

Ob die Vorhersage über die Historiker und deren Beschäftigung mit der „kommunalen Neuordnung“ 50 Jahre später wahr geworden ist, lässt sich erst 2023 vollständig beantworten, denn die Historiker waren bisher zurückhaltend. Allerdings erinnert die RP in einer lockeren Artikelfolge bereits seit Dezember 2021 an das Datum 1. Januar 1972 und die Zeit davor. Dabei kann unere Redaktion auf einen Kurzreport zurückgreifen, den der im Februar verstorbene ehemalige Redaktionsleiter Folkmar Pietsch für den damaligen Heimatkalender der Erkelenzer Lande verfasst hat und aus dem der oben stehende erste Absatz zitiert ist.

Die historischen Realitäten und Fakten hat Folkmar Pietsch 1972 kurz und bündig beschrieben. Daran heute zu erinnern, ist auch eine Würdigung der Arbeit des Kollegen, der ab dem Ende der 1960er Jahre die RP-Redaktion Erkelenz mit aufbaute, deren Erfolg er mit Gespür und dem unerlässlichen handwerklichen Können garantierte. Folkmar Pietsch, 1942 geboren, zeigte sich schon früh äußerst kompetent sowohl regional-geografisch wie auch in der Sache, nämlich der Kommunalen Neugliederung oder auch Gebietsreform, die die Gemüter damals auf Trab hielt.

Er legte in dem zum Jahresbeginn 1972 erschienen Heimatkalender der Erkelenzer Lande 1972 einen Kurzreport über Neugliederung vor, in dem beliebten Jahrbuch des damaligen Kreises Erkelenz. Seit 1973 wird es als Heimatkalender des Kreises Heinsberg weitergeführt. Und dass der junge Journalist Folkmar Pietsch von der Redaktion des Heimatkalenders um einen Kurzreport gebeten worden war, bedeutete allein schon Wertschätzung. Denn dessen Chefredakteur oder Schriftleiter war der gelernte Journalist, Pressechef des Westdeutschen Rundfunks und Landrat des Kreises Erkelenz, Josef Rick. Und der hätte bei den anderen drei Lokalzeitungen in Erkelenz langjährigere Kollegen für den Kurzreport wählen können – Folkmar Pietsch hat das Vertrauen durch Kompetenz per Überblick gerechtfertigt. Und mit der Schreibe eines Tageszeitungsredakteurs, der Laien einen komplizierten Zusammenhang nahebringen muss. Und konnte.

Die 50 Jahre sind voll, der goldjubilierende Kreis Heinsberg will das noch feiern. Folkmar Pietsch zog 1972 die Linie rund 40 Jahre zuvor, als Überlegungen angestellt wurden, die Kreise neu zu gliedern, aus dem Trio Erkelenz, Geilenkirchen und Heinsberg ein Solo zu formieren. Es wurde 1932 dann doch ein Duo aus Erkelenz und Geilenkirchen, wobei die Gemeinden Ratheim und Hilfarth vom aufgelösten Heinsberger Beritt zum Kreis Erkelenz kamen, eine kommunale Abrundung der Zechenanlagen von Sophia-Jacoba in Hückelhoven.

Und über die wollte sich, so fand es Folkmar Pietsch in einer Zeitungsnotiz vom 4. Januar 1929, eine Kommission von Landtagsabgeordneten per Zeppelin einen Überblick verschaffen. Der Zeppelin war damals der Inbegriff der technischen Moderne. Neben dem Überblick hatte das als „Fliegende Zigarre“ bezeichnete Flugobjekt für die Kommissionäre den Vorteil, dass „die Nerven der Landtagsabgeordneten nicht so stark mitgenommen werden, wie sie im unmittelbaren Verkehr mit den stürmischen Antragstellern selbst würden“, zitierte Pietsch die Zeitung. Mit dem Antragsteller war das gemeine Volk gemeint.

Er führte einen Begriff für die Zusammenlegung von Gemeinden per Vorschlag des damaligen Erkelenzer Oberkreisdirektors Ferdinand Steinhüser an, der wohl aus der „Fliegenden-Zigarrenkisten-Sicht“ gewissermaßen logisch wird: Ein „Halskrausenamt“ sah sein Blick in die Zukunft vor. Der Begriff war ein Blick in die Vergangenheit: Ausladende Kragen, steif in Plisseeformen gefaltet, wurden vor allem im 17. Jahrhundert getragen, wirkten irgendwie würgend. Letzteres wollte Steinhüser eher nicht, als er ein Amt konzipierte, das sich von Lövenich über Baal, Rurich, Hetzerath, Golkrath bis Schwanenberg um die Stadt Erkelenz ziehen sollte, der wiederum Venrath, Granterath und Kückhoven zugeschlagen werden sollte. Die Krause im Osten sollte das Amt Holzweiler vervollständigen mit Borschemich, Immerath und Keyenberg.

Ziemlich frei wollte sich der Oberkreisdirektor beim Kreis Grevenbroich bedienen, indem er einer neuen Gemeinde Holzweiler Jackerath, Garzweiler, Wanlo, Kuckum, Wickrath, Holz, Otzenrath und Spenrath zuordnete. Die Stadt Hückelhoven-Ratheim, so zitiert Folkmar Pietsch den früheren Kreis-Verwaltungschef, wollte Steinhäuser sparsam um Doveren und Altmyhl ergänzen – mit 25.000 Einwohnern war die Bergbaustadt seit Langem schon die größte Kommune im Dreieck Mönchengladbach, Düren, Alsdorf. Der Aachener Regierungspräsident (RP) Schmidt-Degenhardt war später der Auffassung, dass Hückelhoven-Ratheim doch noch einige Einwohner mehr vertragen konnte und reihte neben Doveren und Altmyhl auch noch Baal, Hetzerath und Gerderath in die Stadtgrenzen. Der RP hatte sich wohl davon leiten lassen, dass sowohl in Altmyhl, Doveren, Hetzerath und Gerderath teils große Siedlungen für die in Hückelhoven beschäftigten Bergleute existierten. Die wären quasi unter ein Kommunaldach gekommen, was wiederum der regionalen CDU nicht passte, denn in der Bergarbeiterschaft favorisierte man die SPD, wie die Wahlergebnisse vorher schon gezeigt hatten. Das Potenzial der SPD wäre somit größer geworden.

Erkelenz sollte mit Kückhoven, Venrath, Lövenich, Golkrath, Schwanenberg, Rath-Anhoven und Granterath vereint, Borschemich als Gemeinde mit Holzweiler, Immerath, Keyenberg, Garzweiler, Holz, Otzenrath, Spenrath, Kuckum und Wanlo gegründet werden. Im Norden, so Schmidt-Degenhardt laut den Recherchen von Folkmar Pietsch, sollten Elmpt und Niederkrüchten eigene Gemeinden bleiben, Wegberg sollte um Arsbeck wachsen. Und Wassenberg sollte Zentralort für Myhl, Wildenrath, Orsbeck und Birgelen werden.

Mit einem eigenen Gutachten funkte dann im April 1968 der Staatssekretär im NRW-Innenministerium, Fritz Rietdorf, dazwischen, der dem Kreis Erkelenz geografisch gesehen den Kopf abschneiden, nämlich Elmpt, Niederkrüchten und Wegberg dem Kreis Kempen-Krefeld zuschlagen wollte. Landrat Rick, so Folkmar Pietsch, berief den Kreistag in die Krüchtener Schwalmtalhalle ein, um eine „glasklare Resolution“ vorzulegen unter dem Diktum „Unser Kreis bleibt ungeteilt“, das auch für den Süden galt, wie Pietsch schreibt, wo der Kreis Jülich Ansprüche auf Rurich, Baal, Lövenich, Immerath und Holzweiler erhoben hatte.

Am 21. November 1969 gab der (neue) Oberkreisdirektor Barthel Jansen die vom Kreistag gebilligten „eigenen“ Vorschläge für die Neugliederung bekannt, wobei Fritz Rietdorf im Juni davor die Großgemeinde Hückelhoven-Ratheim noch per Urkunden-Verleih zur Stadt gemacht hatte.

Der Kreistag hatte fünf Städte und Gemeinden vorgeschlagen, bei dem Hückelhoven-Ratheim lediglich Doveren und Altmyhl zugeordnet werden sollten, Erkelenz sollte mit allen Gemeinden des Amts Erkelenz-Land plus Granterath bedacht werden. Eine Gemeinde sollten ab 1. Januar 1972 Elmpt und Niederkrüchten bilden, Wegberg sollte angereichert werden mit Arsbeck und Wildenrath, schließlich sollte das Amt Holzweiler mit Teilen des Kreises Grevenbroich zusammengefügt werden. Auf eine Zuordnung von Gerderath, Myhl, Baal, Lövenich und Rurich hatte man sich nicht einigen können.

Für die Städte- und Gemeinderäte machte der damalige RP-Redaktionsleiter Folkmar Pietsch nun „eine außerordentliche Hektik“ aus, die Telefon-Drähte glühten. Es wurden eigene Lösungen beschlossen – und wieder verworfen. In Gerderath zielte Bürgermeister Jakob Franzen wohl auf Selbstständigkeit ab, Baal schwankte zwischen Erkelenz und Hückelhoven. Rurich, Brachelen, Altmyhl und Doveren hatten sich schon für die „reiche“ Bergbaustadt entschieden.

 Staatssekretär Dr. Fritz Rietdorf (l.) überreicht im Juni 1969 Hückelhovens Bürgermeister Alfred Falk (M.) und Gemeindedirektor Dr. Josef Rürup die Stadtrechtsurkunde. Er hatte zuvor einen eigenen Vorschlag zur Neugliederung gemacht.

Staatssekretär Dr. Fritz Rietdorf (l.) überreicht im Juni 1969 Hückelhovens Bürgermeister Alfred Falk (M.) und Gemeindedirektor Dr. Josef Rürup die Stadtrechtsurkunde. Er hatte zuvor einen eigenen Vorschlag zur Neugliederung gemacht.

Foto: Archiv Spichartz
 Die Erkelenzer Kreisgrenze vor der Neugliederung 1971 ist grün gezeichnet, der Vorschlag des Innenministers orange, also mit Brachelen und dem Wassenberger Gebiet.

Die Erkelenzer Kreisgrenze vor der Neugliederung 1971 ist grün gezeichnet, der Vorschlag des Innenministers orange, also mit Brachelen und dem Wassenberger Gebiet.

Foto: Archiv Spichartz

Für erheblichen Ärger sorgte auch in der Bevölkerung des Kreises Erkelenz ein Neuordnungsvorschlag am 30. Juni 1971 im Düsseldorfer Landtag, in dem der neue Kreis „Heinsberg“ genannt wurde. Vom Land wurde noch beschwichtigt, es handele sich lediglich um einen „Arbeitstitel“ – allein, es half nicht, am 25. November beschloss der Innenausschuss des Landtags den Namen „Kreis Heinsberg“. Mit einer Stimme Mehrheit fiel die Entscheidung, der Wegberger CDU-Landtagsabgeordnete Karl Fell hatte mit der SPD für Erkelenz gestimmt, deren Koalitionspartner FDP und die CDU für Heinsberg. Schlussszenario dann am 2. Dezember 1971 im Landtag: Bei nur vier Gegenstimmen ging der knappe Ausschussbeschluss durch, am 31. Dezember 1971 „ging der Kreis Erkelenz unter“, eine Sekunde später der Kreis Heinsberg „auf“. Das 50-Jährige dieses weit tragenden Ereignisses hat Folkmar Pietsch noch erleben dürfen. Am 24. Februar ist der 79-Jährige gestorben.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort