Chaos in Afghanistan US-Präsident Biden will keinen Abzug vom Abzug

Washington · Ein Ende mit Schrecken - besser als ein Schrecken ohne Ende? Ob dieser Spruch auch für Afghanistan zutrifft, ist durchaus fraglich. Der blutige Vormarsch der Taliban hält das Land in Atem und kostet Menschenleben. Doch die USA halten an ihren Abzugsplänen fest.

   Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums John Kirby informiert über die Pläne in Afghanistan.

Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums John Kirby informiert über die Pläne in Afghanistan.

Foto: dpa/Susan Walsh

Mission irgendwie erfüllt. Das ist die Auffassung der US-Regierung. Das Ziel - das sei die Zerschlagung des Terrornetzes Al-Kaida in Afghanistan gewesen, sagt der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby. Und das Ende der Terrorgefahr die aus dem Land für die USA ausging. Und jetzt folge man der Ansage des Präsidenten - und das sei nun mal der Truppenabzug. Mantraartig werden diese Sätze in den USA seit Wochen wiederholt.

Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Afghanistan im Chaos zu versinken droht. Die Taliban erobern in kürzester Zeit eine Stadt nach der anderen - Zivilisten kommen bei den Gefechten ums Leben. All das passiert rund drei Wochen, bevor die USA ihre Truppen aus dem Land abgezogen haben wollen - der Kampfeinsatz vorbei sein soll. Kann US-Präsident Joe Biden trotz der dramatischen Entwicklung an seinen Plänen einfach so festhalten? Ja, sagt Sprecher Kirby. Es sei ihr Kampf, sagt er an die Afghanen gerichtet. Fest steht aber auch: Es ist Bidens außenpolitisches Vermächtnis.

Rund 20 Jahre waren die USA in Afghanistan. Die Anschläge vom 11. September 2001, für die Al-Kaida verantwortlich gemacht wurde, hatten damals den Einmarsch der US-geführten Truppen in Afghanistan ausgelöst. Der Militäreinsatz führte binnen weniger Wochen zum Sturz des Taliban-Regimes. „Wir beenden Amerikas längsten Krieg“, hatten Biden in einer Rede im Juli erklärt und seine Abzugspläne verteidigt. Ein Versprechen, das Biden seinen Landsleuten gegeben hat. Ein Versprechen, das er nun schwer brechen kann.

Und Biden macht auch keine Anstalten, dies zu tun. Denn die Botschaft des Abzugs ist in erster Linie an die Amerikaner gerichtet. Der Fokus liegt dabei nicht auf der Zukunft Afghanistans. „Wir sind wegen eines schrecklichen Anschlags, der sich vor 20 Jahren ereignet hat, nach Afghanistan gegangen. Das kann nicht erklären, warum wir 2021 dort bleiben sollten“, sagte Biden im April. Man stehe in der Schuld der Amerikaner, die im Dienst des Militärs stehen. Es sei Zeit, dass die rund 2500 Männer und Frauen nach Hause kommen.

Kritik an Bidens Abzugsplänen gab es immer wieder - besonders prominent zuletzt von Ex-Präsident George W. Bush. Er hatte den Einmarsch in Afghanistan angeordnet. Die USA wollten das Land durchaus stabilisieren, die Demokratie aufbauen und Frieden bringen. Kritiker des Abzugs räumen zwar ein, dass dies wohl utopisch sei. Doch es steht die Frage im Raum, ob die Bewahrung des Status Quo nicht besser gewesen wäre als der blutige Vormarsch der Taliban. Für Biden, das sagte er selbst im April, war der Status Quo keine Option.

Die USA werden nun nicht müde, zu betonen, dass die afghanischen Streitkräfte in der Lage seien, das Land zu verteidigen. „Bislang hat die Friss-oder-stirb-Strategie der Regierung keine vielversprechenden Ergebnisse gezeigt“, urteilte jüngst allerdings die „New York Times“. Das Einzige, worauf man jetzt noch hoffen könne, sei eine Art Patt zwischen den afghanischen Streitkräften und den Taliban-Kämpfern, sagte Ex-Verteidigungsminister Leon Panetta im US-Fernsehen. Dafür bräuchte es militärische Stärke. Eine Übernahme der Taliban wäre eine echte Bedrohung für die USA - Afghanistan würde zum „sicheren Hafen“ für Terroristen werden. Wenn die afghanische Hauptstadt Kabul falle, sei es vorbei.

Die US-Regierung betont immer wieder, dass auch die Taliban Interesse an einer „dauerhaften Lösung“ hätten, die mit Diplomatie erreicht werden könnte. Für diese Aussagen musste der Sprecher des Außenministeriums, Ned Price, zuletzt einstecken. „Ned, ich sage das nur ungern, aber das grenzt schon an intellektuelle Unredlichkeit“, warf ihm ein Journalist vor. „Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass die Taliban eine gerechte und dauerhafte Lösung anstreben. Keine.“

Aktuell setzen die USA deshalb auch nicht vorrangig auf Diplomatie - sondern etwa auf Luftschläge. Sie fliegen seit Wochen regelmäßig Luftangriffe gegen Taliban-Stellungen. Da die US-Truppen aber mittlerweile so gut wie abgezogen sind, steigen die Flieger außerhalb Afghanistans auf - etwa weit weg von einem in der Region stationierten Flugzeugträger. Werden die USA auch nach dem Abzug am 31. August Luftangriffe fliegen? Völlig ausgeschlossen ist das nicht. Richtig festlegen, möchten sich die Amerikaner bisher nicht.

Ein Schreckgespenst für die USA sei aber eine mögliche Machtübernahme der Taliban in Kabul - und folglich Evakuierungen der US-Botschaft und anderer westlicher Botschaften, so die „New York Times“. Denn eine prägendere Erinnerung sei das ehemalige Saigon im Jahr 1975. Damals war der Krieg gegen Nordvietnam verloren - Bilder einer chaotischen Rettung des Botschaftspersonals gingen um die Welt.

Eine gewaltsame Machtübernahme der Taliban - es wäre ein Desaster. Und längst nicht nur für die USA. Vor allem für das geschundene Land selbst. Für die junge Demokratie in Afghanistan würde dies vermutlich das Aus bedeuten. Zudem dürfte es zu Rückschritten bei Frauenrechten und Meinungs- und Medienfreiheit kommen und das Land könnte wieder ein Rückzugsort für internationale Terroristen werden.

Vor allem Letzteres wäre nicht nur für die USA, sondern auch für die Nato der Super-GAU, da sie den Einsatz am Hindukusch vor knapp zwei Jahrzehnten begonnen hat, um dem von Afghanistan ausgehenden internationalen Terrorismus ein Ende zu bereiten. Zum ersten und bislang auch einzigen Mal in der Geschichte der Nato war nach den Anschlägen vom 11. September der Bündnisfall ausgerufen worden. Dies führte dazu, dass Deutschland und zahlreiche andere Nato-Staaten sich am Krieg gegen die Taliban und Al Kaida in Afghanistan beteiligten. Allein die amerikanischen Streitkräfte verloren am Hindukusch mehr als 2300 Soldaten. Die Bundeswehr beklagte 59 Opfer.

Angesichts des Taliban-Vormarsches in Afghanistan fordert die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl die Bundesregierung auf, bedrohte ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr mit einer Luftbrücke zu retten. „Es gibt mindestens 1000 Ortskräfte, die noch in Afghanistan festsitzen. Die Bundesregierung muss ganz schnell mehrere Chartermaschinen hinschicken“, sagte Pro-Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt unserer Redaktion. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte vor zwei Wochen in ihrer letzten Sommerpressekonferenz angekündigt, notfalls mit Chartermaschinen frühere afghanische Mitarbeiter von Bundeswehr und Entwicklungshilfe wie Dolmetscher und Fahrer auszufliegen. Seitdem hat die Regierung zu diesem Vorhaben offiziell nichts mehr verlauten lassen. „Die Kanzlerin muss Wort halten. Wir brauchen eine Luftbrücke, um diese Menschen außer Landes und in Sicherheit zu bringen“, sagte Burkhardt unter Verweis auf die USA. Washington hat aus Sorge vor Racheakten der Taliban etliche Ex-Ortskräfte der US-Streitkräfte in die Vereinigten Staaten geholt. Nach Angaben der Bundesregierung sind bislang rund 1700 ehemalige Ortskräfte und deren Familien nach Deutschland gekommen. Die Zahl der ausgestellten Einreisevisa für Berechtigte wurde zuletzt mit 2400 angegeben. Scharf kritisiert Pro Asyl, dass das Außenministerium seine Lageeinschätzung, die Grundlage für Abschiebungen ist, noch nicht der verschlechterten Sicherheitslage angepasst habe: „Außenminister Heiko Maas duckt sich weg und verschließt die Augen vor der brutalen Wirklichkeit in Afghanistan“, sagte Burkhardt. Es müsse einen sofortigen Abschiebestopp geben.

Dass passieren könnte, was derzeit passiert, war den meisten politischen Entscheidungsträgern klar gewesen. Am Ende entschied sich Biden allerdings ungeachtet aller Warnungen für den Abzug und beendete damit auch den Nato-Einsatz. Die Nato kann seit der Beendigung ihres Militäreinsatzes nur noch Appelle an die Taliban richten und hoffen, dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm endet, wie es derzeit von Vielen befürchtet wird.

(june/dpa)
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