Serie „Humbug“ Der Glaube an die flache Erde boomt

Berlin · Seit dem Mittelalter haben vermutlich nicht mehr so viele Menschen wie heute geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist. Mit Hilfe von Youtube hat sich Flat-Earth-Theorie innerhalb von fünf Jahren wie ein Lauffeuer verbreitet. Entstanden ist eine Bewegung, die überall auf der Welt ihre Anhänger hat.

 Bilder wie diese werden von den Anhängern der Flat-Earth-Theorie als Fake abgetan: Genauso wie die Mondlandung, Satelliten, Astronauten, Wissenschaftler und das Weltall. Sie glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.

Bilder wie diese werden von den Anhängern der Flat-Earth-Theorie als Fake abgetan: Genauso wie die Mondlandung, Satelliten, Astronauten, Wissenschaftler und das Weltall. Sie glauben, dass die Erde eine Scheibe ist.

Foto: Pixabay

Es ist ein elementarer Grundpfeiler der menschlichen Weltordnung: Die Erkenntnis, dass unser Heimatplanet eine Kugel ist. Doch immer mehr Menschen stellen sie infrage. Sie glauben, die Erde sei in Wahrheit flach wie ein Frisbee.

Was wird behauptet?

Sogenannte Flacherdler oder Flat Earther, wie sie sich selbst bezeichnen, glauben daran, dass die Erde eine Art gigantisches Terrarium ist und unser Wissen über den Erdball auf einer Hollywood-artigen Inszenierung beruht. Wie beim Filmklassiker „Truman-Show“ von 1998, bei der die Hauptperson in einem Filmset lebt, ohne es zu merken – nur größer. Und mit dem Unterschied, dass lediglich ein Zirkel aus gesellschaftlichen Eliten die Wahrheit kennt, sagen die Flat Earther. Eine Heerschaar an Schauspielern werde bezahlt, um in der Rolle von Wissenschaftlern unsere konstruierte Sicht auf die Welt kontinuierlich zu unterfüttern. Auch die Nasa gehört demnach zu dieser Verschwörung: Mondlandung, Astronauten, die Satelliten-Bilder aus dem Orbit?– alles Fake. Medien und Schulen seien selbstredend an der Indoktrination der großen Erdverschwörung beteiligt.

Tatsächlich habe die Menschheit seit jeher richtig gelegen mit der Vorstellung von der Beschaffenheit der Erde. So behaupten die Flat Earther, sie sei scheibenartig mit dem Nordpol im Zentrum. Darum herum angeordnet seien unsere Kontinente: Europa auf der einen, Nordamerika auf der anderen Seite; Südamerika und Australien am weitesten voneinander entfernt. Weil die Flüge von Amerika nach Australien damit zu kurz geraten, glauben viele, dass Australien als Kontinent gar nicht existiere, Städte wie Sydney sich eigentlich irgendwo in Südamerika befänden. Das Wasser der Ozeane könne nicht entweichen, denn um den Rand der Erde ziehe sich eine mehrere hundert Meter hohe Mauer aus Eis wie man sie aus der TV-Serie „Game of Thrones“ kennt. Damit niemand diese Gletscherwand erklimmen könne, hätten sich die Regierungen etwas überlegt: Den Antarktis-Vertrag von 1959, der die Antarktis als neutrales Forschungsgebiet deklarierte. Ihn sehen die Flat Earther als Beweis dafür, dass die Weltbevölkerung mit aller Macht vom äußeren Eisring der Erde und so von der Wahrheit ferngehalten werden soll.

Über die Erdoberfläche spanne sich eine Kuppel, an die ein künstlicher Sternenhimmel projiziert werde. Sonne und Mond kreisten unterhalb des Kuppeldachs und simulierten so unseren Tag-Nacht-Rhythmus und die verschiedenen Zeitzonen. Je nach Variante des Verschwörungsglaubens ist die Sonne entweder ein gigantischer Wärmestrahler oder eine 52 Kilometer kleine Kugel, die nur wenige Tausend Kilometer von der Erde entfernt ist und im europäischen Winter in größerem Radius und höherer Geschwindigkeit zirkuliert. Und das Weltall außerhalb der Kuppel? Die meisten Flat Earther glauben nicht an seine Existenz

Woher kommt der Humbug und was ist dran?

Es ist, als wären wir in der Zeit zurückgereist. Denn viele Jahrhunderte lang glaubte die Menschheit, dass die Erde eine Scheibe sei. Dass es aber bis zur Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus im Jahre 1492 oder der Weltumsegelung von Fernando Magellan rund 30 Jahre später dauerte, bis die Menschheit eines Besseren belehrt wurde, gilt mittlerweile als widerlegt. Tatsächlich wussten viele Gelehrte, Kaufleute oder Geistliche im Mittelalter sehr wohl, dass die Erde rund ist.

Der griechische Philosoph Pythagoras hatte schon im sechsten Jahrhundert vor Christus die Erde als Kugel beschrieben. Sein Kollege Aristoteles schloss wenig später aus dem kreisförmigen Schatten, den die Erde während einer Mondfinsternis auf den Mond wirft, dass sie kugelförmig sein müsse. Rund 100 Jahre später errechnete Eratosthenes, der Leiter der Bibliothek von Alexandria, mithilfe von Sonnenschatten einen Erdumfang von 40.000 Kilometer, der nur 77 Kilometer vom tatsächlichen abwich. Auch die Kirche wehrte sich nicht gegen die Vorstellung der Erde als Kugel. Im Inquisitionsprozess gegen Galileo Galilei von 1616 ging es vielmehr darum, dass dieser behauptete, nicht die Erde, sondern die Sonne sei Mittelpunkt des Universums. Das konterkarierte die Schöpfungsgeschichte.

Das bedeutet aber nicht, dass die kugelförmige Gestalt der Erde im Mittelalter allgemeiner Konsens war. Und ganz verschwand der Glaube an eine flache Erde wohl nie. In der Neuzeit war es die 1956 gegründete Flat Earth Society, die diese spezielle Sichtweise auf unseren Heimatplaneten wieder aufleben ließ und sich gar an physikalischen Experimenten versuchte. Zudem wurden zahlreiche Bücher veröffentlicht, die die Vorstellung von einer flachen Erde behandelten. Neuen Schwung bekam die Theorie über die Videoplattform Youtube, wo angebliche Nasa-Insider die Verschwörung der Eliten propagieren und vermeintliche Zusammenhänge konstruieren.

Wie verbreitet ist der Humbug?

Wegen dieser Youtube-Kanäle, die wie semiprofessionelle TV-Shows aufgezogen sind, erlebt die Verschwörungsideologie der flachen Erde seit fünf Jahren einen regelrechten Boom. Die Videos werden millionenfach geklickt. Dass die Plattform maßgeblich für diesen Hype verantwortlich ist, fanden Forscher der Texas Tech University heraus. Von den 30 befragten Flat Earthern gaben 29 an, aufgrund von Youtube-Videos ihre Meinung über die Erde geändert zu haben. Das habe auch mit dem Algorithmus von Youtube zu tun, der eine Art individuell zugeschnittene Parallelwelt erzeuge, aus der man schwer wieder herauskomme, sagen die Forscher. Tatsächlich zeigt die Auswertung der Suchmaschine Google, wie sich die Anfragen zur Flat-Earth-Theorie seit 2015 stark vervielfacht haben. Das fällt zeitlich mit dem Aufkommen der großen Youtube-Kanäle zusammen.Einer Yougov-Umfrage von 2018 zufolge ist sich heute jeder sechste Amerikaner nicht sicher, ob die Erde rund ist. Bei den Millennials, also den 18- bis 24-Jährigen, hat sogar jeder Dritte seine Zweifel. Aufällig: Meist ist der Flat-Earth-Glaube an eine starke Religiösität geknüpft. Yougov befragte auch die Briten, von denen drei Prozent angaben, an eine flache Erde zu glauben. Bei den Brasilianern sind es sieben Prozent, fand das Datafolha Institut heraus. Auch viele Prominente wie Kyrie Irving, einer der besten Basketballer der Welt, der Rapper B.o.B., das Model Tila Tequila oder der Sänger Xavier Naidoo bekennen sich öffentlich zum Verschwörungsglauben.

Einen der Youtube-Influencer begleitete die 2018 erschienene Netflix-Dokumentation „Unter dem Tellerrand“. Mark Sargents Verschwörungsvideos, in denen er vermeintliche Indizien für eine flache Erde aufführt, haben ihn berühmt gemacht. Auf der Straße wird er erkannt, Leute wollen Selfies mit ihm machen, tragen seinen Namen auf der Brust. Doch die Dokumentation zeigt Sargents Dilemma: Selbst wenn er eines Tages nicht mehr vom Flat-Earth-Glauben überzeugt ist, wird er weitermachen. Denn er genießt es, von der Kanzel über die große Weltverschwörung zu predigen und dafür innerhalb der Gemeinschaft verehrt zu werden. Auch für viele andere ist der Glaube an eine flache Erde so etwas wie das Ende der Suche nach einem Platz in der Welt: eine Gemeinschaft, in der man sich angekommen und aufgehoben fühlt.

Wenig gemeinsam haben die modernen Flat Earther der Internetgeneration mit der alten Flat Earth Society. Von ihr distanzieren sich die neuen Flacherdler, laden sie auch nicht zu ihren seit drei Jahren jährlich in den USA stattfindenden Konferenz ein. Auch in Italien, Großbritannien oder Brasilien wurden solche Konferenzen schon abgehalten.

Der Humbug zieht weltweit seine Kreise. Es werden kräftig Geschäfte mit Fanartikeln gemacht. Ein Anhänger verdient zum Beispiel sein Geld mit der Herstellung von beleuchteten Flat-Earth-Modellen als Gegenentwurf zu Globen. Es gibt Dating-Netzwerke, über die sich Flat Earther verabreden, weil sich für viele die Partnersuche schwierig gestaltet. In Spanien wurde 2016 der Madrider Vorstadtvereins CD Mostoles in Flat Earth FC umbenannt. Das Maskottchen: Ein Astronaut als Feindbild. Der Fußballverein spielt in der vierten spanischen Liga. Ein besonders fanatischer Anhänger, der Amerikaner und Selfmade-Astronaut „Mad Mike“ Hughes, wollte sich mit eigenen Augen von der Wahrheit über die Form der Erde überzeugen. Er baute eine Rakete aus Altmetall und hob im Februar 2020 vor laufenden TV-Kameras ab. Doch kurz nach dem Start stürzte seine Kapsel ab, und Hughes kam dabei ums Leben. Andere Vertreter hatten für dieses Jahr eine Expedition zur Antarktis geplant, um den Rand der Erde zu erblicken. Am Ende der Netflix-Doku versuchte ein Team von Flat Earthern, die Erdkrümmung zu widerlegen – und belegte sie stattdessen.

Was sagen die Experten?

„Wenn die Erde eine Scheibe wäre, hätte wir eine unendliche Ebene und keinen Horizont. Wir können aber beobachten, dass Schiffe nach und nach hinter einer Horizontlinie verschwinden. Das ist schon den alten Griechen aufgefallen“, sagt Jürgen Oberst, Leiter der Abteilung Planetengeodäsie am Institut für Planetenforschung in Berlin. „Anhand von Größe, Entfernung und Sichtbarkeit der Schiffe kann man sogar ausrechnen, dass es die Erdkrümmung gibt.“ Oberst beschäftigt sich mit der Beschaffenheit von Planeten und kartiert sie. Er kann nicht glauben, dass im Jahr 2020 Millionen von Menschen wieder davon überzeugt sind, dass die Erde flach ist. Schließlich gebe es einfach nachzuvollziehende Beweise gegen diese Behauptung.

Da seien Flugzeuge, die in der Stratosphäre fliegen und von denen aus man die Kugelform der Erde erkennen könne. Erst recht sei dies über Bilder der 2666 die Erde umkreisenden Satelliten möglich. Dass Satelliten existieren, könne doch nachts vom Boden aus beobachtet werden. Über die Internationale Raumstation (ISS)ISSwisse man, dass sie alle 90 Minuten erneut am Himmel erscheine. „Ohne Satelliten würden Fernsehübertragungen oder unser GPS-System gar nicht funktionieren“, erklärt Oberst.

 Jürgen Oberst war schon an diversen Weltraummissionen beteiligt und lehrt neben seiner Tätigkeit am Institut für Planetenforschung auch an der TU Berlin.

Jürgen Oberst war schon an diversen Weltraummissionen beteiligt und lehrt neben seiner Tätigkeit am Institut für Planetenforschung auch an der TU Berlin.

Foto: Ulrich Dahl/Technische Universit/Ulrich Dahl

Dass Satelliten am Himmel wiederkehrten, man ihre Umlaufbahn kenne, in der sie ohne eigenen Antrieb unterwegs sind, bringe zudem den Nachweis für die sich gegenseitig aufhebenden physikalische Naturgesetze von Schwerkraft und Fliehkraft. Denn einige Flat Earther zweifeln an der Existenz der Gravitation, behaupten, die Menschen müssten von der Erde fallen, wenn sie rund wäre. Mit einem Gravimeter oder entsprechenden Fallexperimenten, so Oberst, könne aber nicht nur nachgewiesen werden, dass es die Schwerkraft gebe, sondern dass sie mit zunehmender Höhe auch abnehme. Wenn wir uns wiederum über Bergwerke oder Höhlen dem Erdkern nähern, sei eine Zunahme festzustellen. Seismologen könnten zudem Erdbeben auf der anderen Seite der Welt erfassen und ihre Bewegungen durch das Innere der Erde rekonstruieren – bei einer scheibenartigen Erde wäre das nicht möglich, betont Oberst: „Das sind ganz unterschiedliche Messungen, die alle mit unserem Modell der Erde übereinstimmen. Da gibt es keine offenen Fragen. Hundertausende von Wissenschaftlern, die auf ganz unterschiedlichen Feldern arbeiten, können sich das nicht alles ausgedacht haben.“

Auch die Sterne entlarvten die Mär von der flachen Erde. Auf der nördlichen und der südlichen Halbkugel offenbarten sich zum selben Zeitpunkt gänzlich unterschiedliche Konstellationen am Nachthimmel. Wie weit weg die Sterne und Planeten am Himmel sind, könne man heutzutage exakt berechnen, die Entfernung zum Mond sogar messen, sagt Oberst, und somit die Theorie vom inszenierten Firmament widerlegen: „Wir können einen Laser auf den Mond schießen.“ Über die Bewegung der Sterne am Firmament könne man wiederum die Rotation der Erde von einer Umdrehung pro 24 Stunden feststellen. Sie beeinflusst zudem die Drehrichtung von Meeresstrudeln sowie von Hoch- und Tiefdruckgebieten: Auf der Südhalbkugel drehen sie sich linksrum, auf der Nordhalbkugel rechtsrum. Ebenso sei das Phänomen von Sonnenauf- und -untergängen nur mit einer gekrümmten Erdoberfläche vereinbar. Auf einer flachen Erde hätte die Sonne immer die gleiche Höhe.

„Warum sind die Planeten denn Kugeln? Das hängt mit der Natur der Schwerkraft zusammen. Denn nur auf einer Kugel ist sie überall gleich verteilt.“ Als radiale Kraft wirke sie vom Mittelpunkt eines Körpers aus in alle Richtungen gleich anziehend auf kleinere Körper. Deshalb sind auch alle Planeten unseres Sonnensystems kugelförmig. Mit den Teleskopen, die Oberst und seine Kollegen benutzen, ist das zu beobachten. Außerdem können sie Bewegung, Rotation und Geschwindigkeit erfassen. „Aber offenbar ist die Wissenschaft in Diskredit geraten. Zur Zeit der Mondlandung gab es eine ganz andere Faszination. Da scheint etwas verloren gegangen zu sein.“

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