Mensch & Stadt Schuld und Vergebung 75 Jahre danach

Kempen · Ostern – das Fest der Vergebung. Bevor Jesus am Kreuz starb, bat er Gott, den Menschen zu vergeben – denn sie wüssten nicht, was sie tun. Ist Vergebung möglich für Massenmord? 75 Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches stellt sich die Frage, ob die Nachfahren der Kempener Bürger, die damals umgebracht wurden, der Stadt Kempen vergeben können.

 24. November 2016: Die verwitwete Hannah Gillman aus Neuseeland gedenkt bei der Stolperstein-Verlegung ihrer ermordeten Verwandten Hannchen, Johanna und Isidor Hirsch vor dem heutigen Kolpinghaus in Kempen an der Peterstraße 23.

24. November 2016: Die verwitwete Hannah Gillman aus Neuseeland gedenkt bei der Stolperstein-Verlegung ihrer ermordeten Verwandten Hannchen, Johanna und Isidor Hirsch vor dem heutigen Kolpinghaus in Kempen an der Peterstraße 23.

Foto: Hans Kaiser

Es ist eine schändliche Bilanz: Von den 77 Juden, die zur Zeit des Dritten Reiches in der damaligen Stadt Kempen und in der Gemeinde St. Hubert lebten, sind 35 Opfer des Holocaust geworden. Hinzu kommen vier Todesopfer politischer Verfolgung und acht Opfer der Euthanasie, sechs aus Kempen, zwei aus St. Hubert. Schließlich drei polnische Zwangsarbeiter, hingerichtet wegen ihrer Beziehungen zu deutschen Frauen. Mithin sind für das Stadt Kempener Gebiet 50 Ermordungen durch die Nazis feststellbar.

50 Morde, und in Kempen hat sich damals keine Hand gerührt, um sie zu verhindern. Das wäre auch aussichtslos gewesen. Nachdem 1935 die Geheime Staatspolizei ein lückenloses Überwachungssystem installiert hatte, war die Chance, Widerstand zu leisten und dabei unentdeckt zu bleiben, verschwindend gering. Die Schuld unserer Großeltern und Eltern besteht darin, dass sie es überhaupt so weit kommen ließen. Dass sie sich blenden ließen von den anfänglichen Erfolgen eines Regimes, von dem sich später herausstellte, dass seine Ideologie menschenverachtend und mörderisch war.

Hier einige Trittsteine des Weges, auf dem viele Kempener ihrem „Führer“ hinterhermarschierten. 30. Januar 1933: Hitler wird zum Reichskanzler ernannt. 1. April 1933: In ganz Deutschland werden die jüdischen Geschäfte boykottiert und mit Aufschriften wie „Jude!“ beschmiert, auch in Kempen. 20. April 1933: Mit überwältigender Mehrheit ernennt der Kempener Stadtrat Adolf Hitler zum Ehrenbürger. 10. August 1933: Die Anzahl der Kempener, die der NSDAP oder einer ihrer Organisationen angehören, ist von 27 (Ende Januar 1933) auf etwa 1500 angestiegen. Eine Steigerung um unglaubliche 5555 Prozent. Jeder fünfte Kempener ist nun mehr oder weniger aktiver Nationalsozialist.

Unter dem Einfluss der allmächtigen Propaganda entwickeln viele Menschen eine neue Moral – die nationalsozialistische. Aber den meisten ist die Veränderung ihres Denkens nicht bewusst. 10. November 1938, Pogromnacht: Die jüdischen Wohnungen und Geschäfte werden von Kempener SA, SS und Polizei demoliert, die Synagoge an der Umstraße geht in Flammen auf. 10. Dezember 1941: Die ersten zwölf Juden aus Kempen und St. Hubert werden deportiert. Nur einer wird zurückkehren: Andreas Mendel. April 1942: Wie in ganz Deutschland wird das Mobiliar der Deportierten vom zuständigen Finanzamt öffentlich versteigert – in Kempen in der Mädchenoberschule an der Thomasstraße, gegenüber der Burg. Auf Bollerwagen fahren die Kempener die ergatterten Sachen nach Hause. Ohne schlechtes Gewissen, denn ein Gesetz hat die deportierten Juden zu Ausländern erklärt, deren Besitz nun dem Staat anheimfällt. Dann ist ja wohl alles in Ordnung.

Zu denen, die am 10. Dezember 1941 von Kempener Polizisten abgeholt und auf den Weg in das Ghetto der lettländischen Hauptstadt Riga gebracht werden, gehören die Eheleute Selma und Rudolf Bruch und ihre siebenjährige Tochter Ilse, wohnhaft Vorster Straße 2, heute: Café Amberg. Von dort sind die drei im November 1941 in das Haus Schulstraße 10 gebracht worden. Hier hausen sie, zusammengepfercht mit fünf anderen Juden. Selmas älterer Bruder Leo Goldschmidt begeht dort Selbstmord, drei Tage, bevor die Familie zum Abtransport von Kempener Polizisten zum Bahnhof geführt wird. Leo Goldschmidt ist nach der Pogromnacht am 10. November 1938 wie alle männlichen Juden Kempens in das KZ Dachau überführt worden und weiß, was „Deportation“ heißt. So etwas will er nicht noch einmal erleben. Selmas Ehemann Rudolf Bruch ist von den Entbehrungen in Dachau dauerhaft erkrankt. In Riga stirbt er, von schwerer Arbeit körperlich erschöpft, am Hungertyphus.

Am 2. November 1943 wird seine Tochter Ilse, mittlerweile neun Jahre alt, in einen Transport nach Auschwitz eingereiht. Ihrer Mutter hat die SS zwar eine Arbeit zugeteilt, die eine Art Lebensversicherung für sie darstellt: Als geschickte Näherin muss die Kempenerin die Kleider der Erschossenen von Blutspuren säubern und dann die Einschusslöcher kunststopfen, damit die Textilien in Deutschland im Rahmen des Winterhilfswerks an bedürftige „Volksgenossen“ verteilt werden können. Aber als Selma Bruch sieht, wie ihre Tochter mit anderen Kindern auf einen Lkw getrieben wird, fährt sie mit nach Auschwitz, damit Ilse beim Sterben in der Gaskammer nicht allein ist.

 Herbert Bruch, hier im Alter von 14 Jahren, lebt in Kalifornien.

Herbert Bruch, hier im Alter von 14 Jahren, lebt in Kalifornien.

Foto: Joanne Bruch

Von der Familie Bruch hat nur einer das „Dritte Reich“ überlebt: Ilse Bruchs älterer Bruder Herbert. Ihn haben die Eltern vor den Nazis in Sicherheit bringen können: 1940 ist er mit einem Kindertransport aus den Niederlanden nach England entkommen. Er lebt heute, 88 Jahre alt, in Kalifornien. Der Verfasser dieses Berichts hat mehrfach versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen, auch über gemeinsame jüdische Freunde. Eine Antwort erfolgte nicht. Offensichtlich möchte Herbert Bruch mit Kempen nichts mehr zu tun haben. Verwundern kann das nicht. Die Nachrichten, die nach dem Krieg aus Kempen nach New York drangen, wo Herbert mittlerweile bei einer Tante wohnte, waren nicht geeignet, ihn versöhnlich zu stimmen.

Herberts Tante ist die international renommierte Medizinerin Dr. Hilde Bruch, 1933 aus Deutschland in die USA emigriert. 1951 fragt sie an, ob die Stadt dem Jungen denn nicht die Grundstücke, die einst seinem Großvater Albert Goldschmidt im Norden Kempens gehörten, zurückgeben könne. Nein, antwortet Bürgermeister Peter Schrievers, das gehe nicht, da entstehe gerade die Von-Saarwerden-Straße, und an der baue die Stadt eine Berufsschule. Daraus wird dann das heutige Berufskolleg des Kreises Viersen. Herberts Großeltern, Albert Goldschmidt und seine Frau Helene, sind im KZ Theresienstadt an Hungertyphus gestorben. Ein Wort des Bedauerns für die Ermordung der sechs Familienmitglieder, an der auch Kempener ihren Anteil hatten, findet der Bürgermeister nicht. Nein, Herbert Bruch kann Kempen, das zur Ermordung seiner Familie beigetragen hat, nicht vergeben.

 Für Hermann Chickowsky soll ein Stolperstein verlegt werden.

Für Hermann Chickowsky soll ein Stolperstein verlegt werden.

Foto: Walter Chickowsky

Auch Walter Chickowsky kann nicht vergeben. Es waren Kempener Nationalsozialisten, die seinen Vater mit voller Absicht in den Tod geschickt haben: den Installateur und Klempner Hermann Chickowsky, damals wohnhaft in Kempen, Umstraße 23. Hermann Chickowsky ist Marxist. Er strebt eine bessere Welt an, in der alle Menschen Genossen sind. Nach ihrer Macht­übernahme am 30. Januar 1933 haben die Nazis ihn mit den anderen Kempener Kommunisten ins Anrather Zuchthaus gesperrt und ihre Organisation zerschlagen.

Aber im Mai 1933 aus Anrath entlassen, wirkt Hermann Chickowsky heimlich beim Wiederaufbau einer illegalen KPD mit. Er verteilt im Untergrund Zeitschriften gegen die Nazis und bittet die Genossen um finanzielle Unterstützung für politische Gefangene. Dafür wird er 1936 mit anderen Kommunisten in Krefeld vor Gericht gestellt und zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Strafe verbüßt er im Zuchthaus Lüttringhausen. Nach seiner Entlassung 1939 wartet die Kempener NS-Ortsgruppe auf eine Gelegenheit, ihn „unschädlich zu machen“. Die bietet sich, als im Oktober 1942 die Bewährungsdivision 999 aufgestellt wird. Hierhin werden Nazigegner zwangsrekrutiert, um sie unter Kontrolle zu haben und in besonders riskanten Einsätzen zu „verheizen“. In enger Zusammenarbeit stellen das Kempener Wehrmeldeamt, die Kempener Polizei und die NS-Ortsgruppe eine Liste mit Nazi-Gegnern auf, die wegen ihres Widerstands im Zuchthaus gesessen haben. In Kempen ist es der „alte Kämpfer“ Adolf Valerius, Mülhauser Straße 2, 1933 Begründer des ersten NS-Stützpunkts, der Hermann Chickowsky den Einberufungsbescheid überbringt – mit den Worten: „Dieses Kommunisten-Nest wird jetzt ausgehoben!“ „Ich war erst vier Jahre damals“, erinnert sich Hermann Chickowskys Sohn Walter, der heute noch in Kempen lebt. „Aber diesen Auftritt des fanatischen Nationalsozialisten habe ich nicht vergessen – und vergeben kann ich ihm auch nicht. Denn er wollte, dass mein Vater nicht zurückkommt.“ Im Spätsommer 1944 ist Hermann Chickowsky – wohl durch Partisanen – bei einem Einsatz im rumänischen Bessarabien umgekommen.

Schicksale wie die der Familien Bruch und Chickowsky sind in unserer Stadt lange unter den Teppich gekehrt worden. 69 Jahre mussten vergehen, bis auf Antrag der Grünen-Fraktion nach Selma Bruch, der Mutter, die für ihr Kind freiwillig in die Gaskammer ging, 2012 im Neubaugebiet an der Kreuzkapelle eine Straße benannt wurde. Eine Straße, die der richtige Weg ist: zu einer wirksamen Erinnerungskultur für die Opfer des Nationalsozialismus.

Erinnerung an die Nazi-Opfer – das ist das Ziel der Stolpersteine, die seit 2015 jedes Jahr in Kempen verlegt werden. Zahlreiche Nachfahren ermordeter und verfolgter Bürger sind dazu angereist. Wie Leora Hirsh, die zur Verlegung am 24. November 2016 Gast unserer Stadt war. Damals waren neun Steine allein ihren Vorfahren, der jüdischen Familie Hirsch, Peterstraße 23, gewidmet. Aus England, Israel und Neuseeland waren fünf Nachkommen erschienen. Leora aus Neuseeland ging nach ihrer Ankunft mit gemischten Gefühlen durch die kleine Stadt: „Konnte es nicht sein, dass manche der in den kleinen Läden ausgestellten Kunstgegenstände aus jüdischen Wohnungen geraubt worden waren? Dass ältere Passanten, die jetzt an ihr vorbeigingen, als Kinder gejubelt hatten, als die Nazis in der Pogromnacht zerschlagene Möbel aus den Fenstern auf die Straße geworfen hatten?“

„Aber“, so schrieb sie später von Auckland nach Kempen, „diese Emotionen der Abwehr zerstreuten sich schnell.“ Denn sie erlebte eine herzliche Aufnahme bei den Bürgern, wurde mit den anderen Gästen zu gemeinsamen Mahlzeiten eingeladen, zu Vorträgen und zu Rundgängen, auch über den jüdischen Friedhof: „Wir wurden empfangen wie eine Familie, deren Rückkehr man sehnsüchtig erwartet hat.“ Sie hat Kempen vergeben.

Bei der nächsten Stolperstein-Verlegung wird auch Hermann Chickowskys gedacht werden.

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