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Neues politisches Selbstbewusstsein Die Fußball-WM ist ein Sieg Arabiens

Analyse | Katar/Istanbul · Die Fußball-WM hat eine überraschende geopolitische Seite: Von Nordafrika bis zum Persischen Golf entsteht ein neues Selbstbewusstsein, befeuert durch den Erfolg Marokkos. Das schlägt auf die Beziehungen zum Westen durch.

WM 2022: So feiern Marokkaner in Düsseldorf den Einzug ins WM-Halbfinale​
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So feiern marokkanische Fans in Düsseldorf den Einzug ins WM-Halbfinale

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Foto: dpa/Christoph Reichwein

Autokorsos in Jordanien, feiernde Fans in Tunis und Kairo, Glückwünsche von Politikern aus der ganzen Region: Die Überraschungssiege arabischer Mannschaften bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar lassen den Nahen Osten seine vielen Konflikte und internen Streitereien zumindest vorübergehend vergessen. Experten sehen ein neues Selbstbewusstsein in der Region, das sich auch in den politischen Beziehungen zum Westen zeigen dürfte.

In Europa war das Turnier in Katar wegen der Ausbeutung von Arbeitern und der Strafverfolgung von Homosexuellen im Gastland höchst umstritten – doch im Nahen Osten wurde die erste Weltmeisterschaft in einem arabischen Land zu einem durchschlagenden Erfolg.

Spektakuläre Erfolge arabischer Mannschaften gegen Fußball-Giganten wie Portugal, Argentinien und Spanien schufen in den vergangenen vier Wochen vom Persischen Golf bis zur marokkanischen Atlantikküste ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl. Westliche Nationen erschienen als arrogant und schlechte Verlierer.

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Foto: dpa/Christian Charisius

Bisheriger Höhepunkt ist das Halbfinale an diesem Mittwoch zwischen Marokko und Frankreich. Die Marokkaner stiegen zu Lieblingen aller Araber auf. „Der Erfolg der Mannschaft hat sicherlich das Gefühl der arabischen Einheit verstärkt und lenkt von regionalen Zwistigkeiten und Rivalitäten ab“, sagt Sebastian Sons, Experte für die Golfregion bei der Bonner Denkfabrik Carpo. „Der sportliche Erfolg Marokkos dient somit als kurzfristig einigende Klammer, stärkt das panarabische Selbstbewusstsein und wird als nationalistisches Symbol gegen das ehemals kolonialistische Europa instrumentalisiert“, sagt Sons unserer Redaktion.

Zum Symbol der neuen arabischen Einheit wurde das Zeichen eines Landes, das überhaupt nicht in Katar vertreten war: die Flagge Palästinas. Marokkanische Fußballer schwenkten sie nach ihrem historischen Einzug ins Viertelfinale im Spiel gegen Spanien. Auch andere arabische Mannschaften hatten bei ihren Auftritten die Flagge dabei. Fans in den Stadien von Katar trugen T-Shirts, die mit der palästinensischen Flagge bedruckt waren.

Nicht nur die Unterstützung für die Palästinenser im Dauerkonflikt mit Israel einte die Araber bei der Weltmeisterschaft. Konsens herrschte auch in der Haltung gegenüber den Beschwerden der Europäer: Westliche Kritik werde „in der arabischen Welt als Doppelmoral abgetan“, sagte Kristof Kleemann, Libanon-Projektleiter der Friedrich-Naumann-Stiftung, unserer Redaktion: „Auf der einen Seite werden Menschenrechte und Arbeitsbedingungen kritisiert, auf der anderen Seite ist der Westen gerne bereit, neue Gasabkommen abzuschließen.“

Die deutschen Nationalspieler wurden in Katar wegen ihres Mannschaftsfotos mit bedeckten Mündern verspottet. Arabische Fans hielten nach dem Ausscheiden der Deutschen im Spiel gegen Costa Rica auf den Rängen Fotos des ehemaligen Nationalspielers Mesut Özil hoch. Özil hatte seinen Rücktritt aus der deutschen Mannschaft vor vier Jahren nach dem deutschen Vorrunden-Aus bei der Weltmeisterschaft in Russland mit dem Satz begründet, bei Erfolgen werde er als Deutscher gesehen, bei Niederlagen aber als Ausländer.

„Die Kritik des Westens an Katar hat die arabische Solidarität befeuert“, hat Kleemann beobachtet: „Das ist besonders bemerkenswert, da Katar noch vor ein paar Jahren von seinen arabischen Nachbarstaaten boykottiert wurde.“ Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Ägypten und Bahrain hatten 2017 alle Beziehungen zu Katar abgebrochen und das kleine Emirat isoliert. Die Blockade endete erst im vergangenen Jahr.

Nun zeigten die Golfstaaten bei der Weltmeisterschaft, dass sie den Streit beendet haben, mehr noch: dass sie der Außenwelt gegenüber in neuer Einheit auftreten. „Bei der Eröffnungsfeier saß der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman mit dem katarischen Schal im Stadion“, sagt Kleemann. Katars Emir Tamim bin Hamid al-Thani revanchierte sich, indem er sich nach dem Sieg Saudi-Arabiens über Argentinien im Stadion freudestrahlend die saudische Flagge um die Schultern legte.

Nach Überwindung ihres internen Krachs stehen die Golfstaaten stärker da als je zuvor. Das Turnier fand zu einer Zeit statt, in der europäische Großmächte wie Deutschland wegen des Ukraine-Krieges dringend neue Energielieferanten suchen.

Saudi-Arabien als größter Ölexporteur der Welt und Katar als größter Lieferant von Flüssiggas werden von westlichen Staaten umworben, wie es vor dem Boykott gegen Russland nicht vorstellbar gewesen wäre. Trotz Kritik aus den USA und Europa arbeiten sie mit Moskau in der Gruppe Opec Plus zusammen, in der sich führende Ölproduzenten zusammengetan haben.

Die Fußball-Weltmeisterschaft habe die neuen Machtverhältnisse in der Region offen zutage treten lassen, bilanziert Kleemann: „Durch hohe Ölpreise und wirtschaftliche Reformen können die Golfstaaten vor Kraft kaum laufen.“ Die Golfstaaten hatten ihr neues Verhältnis zum Westen bereits im Oktober demonstriert, als sie die Ölförderung drosselten, um die Preise zu stützen, obwohl Europa und die Vereinigten Staaten Preissenkungen forderten.

Von der WM gehe nun ein neues Signal des Selbstbewusstseins aus, sagt Kleemann: „Konstruktive Beziehungen zum Westen sind willkommen, nur nicht mehr unter allen Bedingungen.“

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