Länderspiel als Talente-Casting Die jungen Nationalspieler drängen sich auf

Leipzig · Das Länderspiel gegen Russland nutzt Joachim Löw als Bühne für die jungen Spieler. Und die nutzen ihre Chance. Von einer radikalen Verjüngung will der Bundestrainer trotzdem nichts wissen.

 Serge Gnabry (Mitte) bejeubelt seinen Treffer zum 3:0 gegen Russland mit Kai Havertz (r.) und Jonas Hector.

Serge Gnabry (Mitte) bejeubelt seinen Treffer zum 3:0 gegen Russland mit Kai Havertz (r.) und Jonas Hector.

Foto: AP/Jens Meyer

Stanislaw Salamowitsch Tschertschessow kann ein richtiger Scherzbold sein. Das wissen die Fußballfans in Sachsen, seit er in den frühen 1990er Jahren für Dynamo Dresden im Tor stand. Die große, weite Fußballwelt weiß es spätestens seit der WM. Da führte er als verschmitzter Trainer Ausrichter Russland ins Viertelfinale. Und obwohl er beim 0:3 im Testspiel gegen Deutschland in Leipzig nicht so viel zu lachen hatte, betrieb er ein bisschen Imagepflege. Als man ihm sagte, dass ein Flitzer, der kurz vor dem Ende mit einer russischen Fahne auf den Platz gelaufen war, vor einem deutschen Spieler niedergekniet sei, erklärte Tschertschessow: "Hoffentlich hat er ihm keinen Heiratsantrag gemacht."

Darüber ist nichts bekannt geworden. Sicher aber ist, dass der Flitzer vor Manuel Neuer auf die Knie fiel und anschließend noch mal vor den Ordnern, die ihn mit einem gekonnten Tackling zu Boden brachten. Vielleicht wollte der Mann dem ältesten deutschen Spieler jene Anerkennung zollen, die ihm daheim längst nicht mehr in dem Maß dargebracht wird, das er eigentlich verdient hat.

Länderspiel 2018 - Deutschland gegen Russland - die Nationalmannschaft in der Einzelkritik
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Deutschland gegen Russland: das DFB-Team in der Einzelkritik

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Neuer wird das verschmerzen. In Leipzig spielte er die Rolle des väterlichen Anführers für ein sehr junges Team. Im Schnitt war es 24,5 Jahre alt - und das nur, weil Neuers 32 Jahre die Zahl ordentlich nach oben drückten. Diese Elf von Frischlingen bot eine Halbzeit sehr Ansehnliches und stürmte fröhlich an den Russen vorbei. Das 3:0 stand schon zur Pause fest. Danach aber kam nicht mehr so viel. Lassen wir den Fachmann sprechen. "In der ersten Halbzeit haben wir ein sehr gutes Tempo gespielt, den Ball schnell laufen lassen und die erste und zweite Reihe des Gegners oft überspielt", sagte Bundestrainer Joachim Löw, "wir haben die Dynamik aufrechterhalten im letzten Drittel durch gute Laufwege der Angreifer, die dem Passgeber die Möglichkeit zum Abspiel geben, wir sind in die Tiefe gekommen." Aber: "In der zweiten Halbzeit hatten wir nicht mehr Tempo, Tiefe und Breite im Spiel."

Die DFB-Auswahl nahm sich eine Auszeit, leistete sich Konzentrationsschwächen und Fehler im Aufbau, ein Zugeständnis an die Jugend der Hauptdarsteller. Leistungsschwankungen gehören dazu. Die deutsche Elf hatte allerdings einen sehr netten Gegner, der nicht nur über einen freundlichen Trainer verfügt, sondern auch die Angebote zum Gegentor ausschlug.

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Dass seine Elf nicht im Modus der ersten Halbzeit blieb, kommentierte Löw so milde, wie die Russen auf deutsche Schwächen reagiert hatten: "Das muss man den jungen Spielern zugestehen, dass sie manchmal nicht die Konstanz über ein ganzes Spiel haben." Mit Genugtuung aber sah Deutschlands oberster Fußballtrainer, dass einige Lernziele erreicht sind. "Wir haben Chancen genützt, und wir haben Tiefe im Spiel gehabt", erklärte der Coach, "die Geschwindigkeit vorne hatten wir bei der WM nicht."

Für das Tempo sorgte ein Angriff aus Anfang-Zwanzigern. Serge Gnabry (23), Timo Werner (22) und Leroy Sané (22) drückten ordentlich auf die Tube. Ihre Sprints öffneten den Raum. Dass er zum Zuspiel genutzt wurde, war das Verdienst von Joshua Kimmich, der schon so lange dabei und trotzdem erst 23 ist, und von Kai Havertz, der als offensiver Mittelfeldspieler eine große Vorstellung bot. Das nötigt sogar den Kollegen Respekt ab. "Er ist 19, aber er spielt überragend", stellte Gnabry fest. Löw lobte Raumgefühl, Ballgefühl und Ordnungssinn des Teenagers. "Er ist auffällig gut für einen 19-Jährigen", sagte der Trainer. In dieser Feststellung steckt die für Löw so typische Bremse. Es ist ein bisschen Gift in diesem Lob. Löw präzisierte das sogar. "Man kann sich gut vorstellen, dass Kai Havertz in den nächsten Jahren eine Schlüsselrolle spielen wird", betonte der Trainer. Und weil er "kann sich gut vorstellen" sagte, heißt das: Zunächst mal müssen sich auch Toptalente wie Havertz hinten anstellen. Schließlich, und mit dem Hinweis liegt Löw sicher richtig, stehe auf der Position im vorderen Mittelfeld ein gewisser Marco Reus im Angebot, der in Leipzig verletzt fehlte.

Auch nach dem Testspiel gegen die Russen, dessen Ergebnis für Neuer "einen hohen Stellenwert hat", wollte Löw keiner radikalen Verjüngung das Wort reden. "Für ein Topniveau braucht man einen guten Mix", versicherte er. Sicher sei es "vorstellbar, dass die jungen Jahrgänge mal das Gerüst der Mannschaft bilden, aber in Konstanz muss man erst reinwachsen". Schließlich seien Philipp Lahm und Bastian Schweinsteiger mit 22 auch nicht auf dem Niveau gewesen, das sie als Weltmeister hatten.

Deutschland gegen Russland - die Stimmen zum Länderspiel 2018
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Dem wurde nicht widersprochen. Aber es nickten auch viele, als Sané sagte: "Wir haben viele gute, junge Spieler. Und heute haben wir gezeigt, dass wir das System des Bundestrainers spielen können." Sané ist in dieser Hinsicht schon ein bisschen forscher als seine Nachwuchs-Kollegen. Havertz erklärte brav: "Es macht immer Spaß, mit jungen Spielern zu spielen. Aber wir können von den älteren hier viel lernen." Und der Mittelmann der Dreierabwehr, Niklas Süle (23), betonte ebenso artig: "Es gibt noch viel zu verbessern." Was er nicht sagte, war: "Da will ich dabei sein." Hören konnte es trotzdem jeder.

Und die Altvorderen Mats Hummels (29) und Thomas Müller (29) guckten 90 (Hummels) oder 73 Minuten (Müller) zu. "Im Training", beteuerte Löw, "gehen sie voran." Im Training.

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