Warum sich ein Besuch lohnt Brüder, zur Sonne, zum Freibad!

Düsseldorf · Steigende Temperaturen und sinkende Inzidenzwerte lassen einen Traum endlich in Erfüllung gehen: den Besuch im Freibad. Ein Vorbild für eine bessere Welt war es schon immer. Eine Liebeserklärung an ein Sehnsuchtsort.

 Das Volksbad in Mönchengladbach aus der Vogelperspektive.

Das Volksbad in Mönchengladbach aus der Vogelperspektive.

Foto: Jana Bauch / Andreas Krebs

Hach, was für ein Gefühl! Sämtliche Sinne schicken stoßweise Signale ans Hirn, das jetzt hellwach wird. Die nackte Haut meldet wärmende Strahlen, die in Verbindung mit einer angenehmen Brise die perfekte Temperatur ergeben, das Barfuß-Erlebnis ist intensiv wie beim allerersten Mal – mein Gott, gibt es da unten viele Nerven –, die Welt um einen herum schimmert und glitzert, die Luft ist erfüllt von spitzen Schreien und unverhältnismäßig lautem Lachen, es riecht nach Wiese, Sonnencreme, Pommes und Chlor, das allein gibt fünf von fünf möglichen Sternen, und auf einmal ist alles weg, und für einen Moment ist man so bei sich selbst, untergetaucht, schwerelos, sanft umschlossen von jenem Element, das alles Leben hervorgebracht hat… Stopp! Schluss! Wie kann man so ins Schwärmen geraten? War doch bloß ein Sprung ins Becken des örtlichen Freibads.

Wir geben zu: Die Euphorie hat uns übermannt. Aber nach dem Winter unseres Missvergnügens, den keine Maske wärmer machte, nach Monaten nahezu kompletter aushäusiger Verhüllung fast sämtliche Hüllen draußen fallen lassen und endlich wieder ins Freibad zu dürfen, ist ein großer, wahrhaftiger Moment. Nie ist uns das Wörtchen „frei“, mit dem diese öffentliche Anstalt beschrieben wird, und in dem ein leichtes Pathos mitschwingt, ähnlich wie „in der freien Natur“ oder „unter freiem Himmel“, so treffend vorgekommen. Erschien die Verheißung hinterm Drehkreuz jemals größer? „Brüder, zur Sonne, zum Freibad!“, möchte man angesichts steigender Temperaturen und fallender Inzidenzwerte ausrufen, aber jetzt übertreiben wir wahrscheinlich schon wieder.

Sicher, noch gibt es Vorsichtsmaßnahmen und Hygieneregeln zu beachten. Aber was ist das schon gegen dieses mächtige Wir-Gefühl des Auftauchens nach einem Leben unter der Oberfläche, das in diesen Tagen nahezu jeden dies- und jenseits des Beckenrandes erfasst und das alle irgendwie verbindet. An diesem Ort, wo Klassenunterschiede seit jeher kaum auszumachen sind, weil die Kleidung, die sie kennzeichnen könnte, vorübergehend in dunklen Schließfächern ruht, wo allein das Handtuch den Platz des Einzelnen in der Masse definiert, wo alle Menschen gleich vor dem Bademeister und seiner Trillerpfeife sind, an diesem gewissermaßen vorbildlich demokratischen Ort, dieser wahr gewordenen Utopie von einer besseren Welt, brach sich das Bekenntnis selten derart Bahn: Wir alle sind gerade Freischwimmer. Wir sind Freibad.

Apropos Hygiene: Der wahre Freund des Freibads hat dazu ein robustes Verhältnis, seit er weiß, dass der typische Chlorgeruch erst entsteht, wenn das Desinfektionsmittel in Kontakt mit jenem Stoff kommt, dessen unter Umständen schädlichen Bestandteile es in erster Linie eliminieren soll: Urin. Kanadische Wissenschaftler haben vor einigen Jahren bei Tests nachgewiesen, dass der durchschnittliche Gehalt in einem 50-Meter-Becken bei etwa 75 Litern liegt. Klingt dramatisch, ist es aber nicht, zumal Harnstoff an sich ungefährlich ist und eventuell vorhandene Bakterien sofort abgetötet werden. Wer aber den Viren in der Vergangenheit die Stirn geboten hat, den schreckt sowas ohnehin nicht mehr, zumal sich die Angelegenheit auf folgende Weise „chlorifizieren“ lässt: Umgerechnet sind es nämlich weniger als ein Milligramm pro Liter Wasser.

Früher, da war der Besuch des Freibads stärker als gerade jetzt zugleich ein Bad in der Menge. Erinnerungen tauchen auf, in dem Moment, wo sich die Augen schließen, sich der Kopf mit dem feuchten Haar aufs Handtuch senkt, und die Geräusche sofort einen anderen Sound bekommen. Sowas hört man im normalen Leben nie, alles um einen herum klingt auf einmal seltsam entrückt, da kann es proppenvoll auf der Liegewiese sein. Man lauscht vielmehr seinem Herzschlag, wie er sich nach den Bahnen im Wasser allmählich wieder beruhigt. So für sich und dennoch nicht allein zu sein, gelingt auf ähnlich angenehme Weise schwerlich anderswo.

Früher, das geht zurück bis in die Kindheit, als einem das blau gekachelte Schwimmbecken so groß vorkam wie ein kleines Meer und man trotz seiner Jugend auf einen Schlag spürte, welch gewaltige Herausforderungen und Bewährungsproben das Leben für einen bereithalten würde: Gleichaltrige sprangen furchtlos und johlend vom Dreier (vom Dreier!), Jungs neckten Mädchen, Mädchen überzogen Jungs mit beißendem Spott, der Kampf der Geschlechter zeigte sich mit ganzer Wucht, und etwas später würde es darauf ankommen, sich ein Herz zu nehmen, um Hand in Hand mit jemandem, den man mochte, auf den Kiosk mit der großen Eiskiste zuzusteuern, so wie dieses lässige Teenager-Paar da vorne. Unvorstellbar. Dann lieber vom Fünfer springen. Somit war das Freibad ein Ort der Offenbarung, der Wahrheit und des Auftrags. Es sendete eine Botschaft aus: Es geht los.

Vielleicht ist das Freibad deshalb ein Sehnsuchtsort geblieben, auch für jene, die ihr Leben schon ein bisschen gelebt haben und dort jetzt Rückschau halten. Es zeigt sich einmal mehr, dass Erfahrungen nicht vererbt werden, jeder muss sie selber machen, und jeder Anfang erfordert Mut. Ein Freibad ist ein Soziotop, in dem sich das super beobachten lässt. Es braucht Mut, zum ersten Mal aus einiger Höhe ins Wasser zu springen, zumal, wenn ein gewisser Gruppenzwang herrscht, aber es braucht noch mehr davon, die Leiter vor aller Augen erhobenen Hauptes wieder hinunter zu steigen, weil das Becken von oben klein wie eine Briefmarke wirkte und man sich und den anderen heldenhaft ersparen wollte, womöglich von den Betonplatten daneben gekratzt werden zu müssen.

Auch an anderen weitgehend entblößt vorbei zu spazieren, kann eine Herausforderung darstellen, selbst wenn diese ebenfalls nur spärlich bekleidet sind. Etwas ziemlich Privates wird öffentlich. Nacktheit garantiert zwar eine gewisse Uniformität, Unterschiede aber bleiben bestehen. Nicht jeder zieht bewundernde Blicke auf sich; die es im Freibad darauf anlegen, sind meistens peinlich. Mancher ist vom Leben gezeichnet, ein anderer von seiner Lebensweise, und die Halbwüchsigen sind oft noch im Ungewissen, wohin die Reise einmal gehen wird. Das Freibad kann einen lehren, gelassener mit sich selbst umzugehen, meistens guckt nämlich gar kein Mensch. Dann wiederum begegnen einem Leute, die im fortgeschrittenen Alter etwas ausstrahlen, das sie beeindruckend schön macht: Würde. Ein willkommener Kontrast zu jenen Zeitgenossen, für die das zeitlebens bloß ein Konjunktiv bleiben wird.

Das größte Risiko gehen immer noch Politiker ein, die sich in Badehose ablichten lassen. Das kann ganz schön in dieselbe gehen, wie etwa Friedrich Ebert, der sozialdemokratische erste Reichspräsident der jungen Weimarer Republik 1919 erfahren musste. Leichtsinnigerweise hatte er sich beim erfrischenden Bad im See nur mit einer Hose bekleidet fotografieren lassen, was nicht der damals weitaus züchtigeren Badebekleidung entsprach. Als die „Berliner Illustrierte Zeitung“ das Bild veröffentlichte, gab es einen Riesenskandal – ein gefundenes Fressen für die Feinde der jungen Demokratie.

Viele Jahrzehnte später war die Wahrnehmung eines Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker, wie er in seinen Siebzigern vom Beckenrand springt, deutlich positiver. Auch Barack Obama, Nicolas Sarkozy und natürlich Wladimir Putin haben sich schon weitgehend textilfrei präsentiert. Wem das überhaupt nicht gut bekommen ist, war der frühere Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD), der sich an einem Pool auf Mallorca mit seiner neuen Lebensgefährtin Kristina Gräfin Pilati-Borggreve turtelnd für die „Bunte“ fotografieren ließ, während die Bundeswehr gleichzeitig vor einem militärischen Einsatz in Mazedonien stand – einer der Gründe, die wenig später zu seiner Entlassung führten.

Wie schön, dass unsereiner im Freibad ungestört seinen Body bräunen lassen kann. Gerade, weil es ein Nobody ist.

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