Europäer in NRW „Hier fühle ich mich nie fremd“

Alexis Theodorou aus Griechenland, arbeitet als Chirurg in Bonn.

 Alexis Theodorou kam als Praktikant das erste Mal nach Deutschland. Heute engagiert er sich für andere eingewanderte Griechen.

Alexis Theodorou kam als Praktikant das erste Mal nach Deutschland. Heute engagiert er sich für andere eingewanderte Griechen.

Foto: Alexis Theodorou

Mehr als eine halbe Million – so viele Menschen haben Griechenland Schätzungen zufolge seit dem Jahr 2010 mit der beginnenden Finanzkrise verlassen. Dazu gehört auch Alexis Theodorou. Immer wieder sagt der 36-Jährige, dass seine Geschichte nichts Besonderes sei. Er spricht selten von sich, lieber redet er von „wir“ und meint damit die anderen Griechen, die nach Deutschland ausgewandert sind.

Theodorous führte einst ein Praktikum in seinem Medizinstudium nach Deutschland. Vor acht Jahren kehrte er dann an die Klinik in Gummersbach zurück und machte dort seinen Facharzt im Bereich Chirurgie. Inzwischen arbeitet er im Uniklinikum Bonn und gehört dort zum Transplantationsteam für Organe.

Immer wieder geht sein Blick deshalb zum Handy, denn er hat Bereitschaftsdienst. Wenn Theodorou spricht, dann tut er es überlegt, streicht dabei manchmal durch seinen Bart. Er ist ein ruhiger Mann, der sich für viele Dinge engagiert: für die Anliegen junger Ärzte in der Gewerkschaft Marburger Bund, für junge Chirurgen in der europäischen Ärztekammer. Und er ist Gründungsmitglied und Präsident des Vereins griechischer Ärzte in NRW. Doch Theodorou will sich nicht in den Vordergrund stellen. Er sei einer von vielen griechischen Ärzten, die nach NRW gekommen sind. Es sei nur logische Konsequenz gewesen, einen Verein für griechische Ärzte zu gründen.

„Schon in den 50er und 60er Jahren kamen viele Griechen  als Gastarbeiter nach NRW“, erklärt Theodorou. Viele seien während der Wirtschaftskrise deshalb in die Nähe ihrer in Verwandten nach Deutschland gezogen und hätten dankbar die Hilfe des Vereins – beispielsweise bei der Übersetzung und Anerkennung von Dokumenten – angenommen.

„Eine Gesellschaft verhält sich so wie ihre Sprache ist“, sagt Theodorou und meint damit nicht nur das Beamtenkauderwelsch, für das Deutschland auch in Griechenland bekannt ist. Nein, er meint damit besonders die Vorurteile über Griechen, die durch die Wirtschaftskrise neu befeuert wurden. Es sind abschätzige Formulierungen, die Theodorou nicht wiederholen möchte. Gerade deshalb wollen er und die anderen Vereinsmitglieder einen Beitrag zur Integration leisten: „Ein griechischer Arzt kann im besten Fall ein Multiplikator für ein gutes Image sein“, sagt er. Man komme schließlich mit vielen Menschen in Kontakt. Es sei ein guter Weg, Vorurteile abzubauen.

NRW sei dafür ein dankbarer Ort. Gespräche in unterschiedlichen Sprachen, das sei in der Kölner Straßenbahn völlig normal: „Hier fühle ich mich nie fremd.“ Theodorou wirkt kurz nachdenklich. „Im Grunde ist sich unsere Generation doch sehr ähnlich. Wir kennen Europa alle als eins. Grieche oder Deutscher – es ist ganz gleich. Ich fühle mich als Europäer.“ Marie Ludwig

Ilia Gruev aus Bulgarien, bis vor kurzem Trainer des MSV Duisburg

Wer Ilia Gruev gegenübersitzt, kann sehen, dass es ihm gut geht. Seine Augen leuchten, wenn er aus seinem Leben erzählt. Er hat eine neue Heimat in einem Land gefunden, in dem er nicht geboren ist. Und er hat dabei eine Stadt in sein Herz geschlossen, die er jetzt sein Zuhause nennt: Duisburg. Der 49-Jährige erinnert sich an diesem Wintermorgen in einem Café in der Duisburger Innenstadt gerne an jenen für ihn so wichtigen Tag im April 2016, als ihm Oberbürgermeister Sören Link den deutschen Pass überreichte. Seitdem besitzt er die doppelte Staatsbürgerschaft.

„Es war sehr viel Papierkram, die Prozedur hat fast zweieinhalb Jahre gedauert“, sagt der Deutsch-Bulgare. Heute ist er „sehr stolz, beide Pässe zu besitzen“. Auch seine Ehefrau Petia (49) und ihre beiden gemeinsamen Kinder haben deutsche Papiere. Gruev, der knapp drei Jahre Trainer des Fußball-Zweitligisten MSV Duisburg war, ehe sich der Verein Anfang Oktober von ihm trennte, hat sich in seiner zweiten Heimat mit seiner Familie ein Leben aufgebaut.

Vor 18 Jahren, als Bulgarien noch nicht zur EU gehörte, kam er als Profifußballer mit seiner Familie nach Deutschland. Seine Tochter Hristiana war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Der Sohn, der wie sein Vater Ilia heißt und heute in der U19 von Werder Bremen spielt, erst sechs Monate. Gruev, der in Sofia geboren wurde, hatte sich entschieden, vom bulgarischen Erstligisten Neftochimik Burgas zum MSV zu wechseln. Seine Familie begleitete ihn nach Duisburg. Der frühere bulgarische Nationalspieler vollzog damit einen Schritt, der auch mit einem gewissen Risiko verbunden war. „Meine Frau und meine beiden Kinder waren schließlich abhängig von meinen Arbeitsvertrag“, erklärt er. „Wenn ich keinen Arbeitsvertrag mehr gehabt hätte, hätten wir hier nicht bleiben können.“

Gruev jedoch wurde in Deutschland heimisch. Er erhielt mit seiner Familie eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. „Wir haben uns sofort wohl gefühlt und schnell integriert“, erzählt er. „Wenn man in einem anderen Land ist, muss man die Regeln und Abläufe wahr- und annehmen und sich anpassen.“ Gruev ist ein Mensch, der durchaus Wert auf solche Dinge legt, die Menschen mit Deutschland assoziieren: „Ordnung, Disziplin und Pünktlichkeit“ habe er allerdings bereits in Bulgarien erlernt, betont er.

2015 unterzeichnete er seinen ersten Vertrag als Cheftrainer in Duisburg. 2017 feierte er mit seiner Mannschaft den Aufstieg in die Zweite Liga. Nach acht sieglosen Spielen in Serie in dieser Saison vollzog der Klub die Trennung. Gruev weiß: „Das sind eben die Mechanismen des Geschäfts.“ An seinem Verhältnis zum Verein habe das jedoch nichts geändert: „Meine Liebe zum MSV kann ich nicht mal richtig erklären. Aber diese Gefühle sind mit der Zeit immer stärker geworden, und sie werden für immer bleiben.“ Nils Balke

Vidas Vaitiekunas aus Litauen, Pfarrer in Dorsten

„Deutschland ist mein Zuhause. Hier fühle ich mich wohl. Aber zuallererst bin ich ein Litauer.“  Fast 20 Jahre schon lebt und arbeitet Vidas Vaitiekunas in Deutschland. Seit November 2016 ist er Pfarrer in der Gemeinde St. Agatha in Dorsten. „Zu  70 Prozent bin ich Seelsorger hier vor Ort. Die restlichen 30 Prozent widme ich mich den in Deutschland lebenden katholischen Litauern“, erklärt der 46-jährige Geistliche. Die Deutsche Bischofskonferenz hat ihn zum Sprecher der litauischen Seelsorge in Deutschland gemacht.  Offiziell  gehört er weiter dem litauischen Bistum Šiauliai an.

Ein Spagat zwischen zwei Welten, der Vidas Vaitiekunas zu einem überzeugten Europäer gemacht hat: Geboren und aufgewachsen in Kaunas war es für seine Familie nicht leicht, ihren katholischen Glauben zu leben. „Litauen gehörte zu dieser Zeit zur Sowjetunion, ist ja erst 1990 ein souveräner Staat geworden. Regelmäßige Kirchenbesuche waren damals nicht möglich. Auch die Grenzen waren dicht.  Die einzige Fremdsprache, die wir lernten, war Russisch. Wozu sollten wir auch eine andere lernen, wo wir doch nirgendwo hinreisen durften?“, fragt der Litauer.

Doch er sollte nach der politischen Wende 1990 seine Chance bekommen. „Ich hatte mein Studium an der theologischen Fakultät in Kaunas abgeschlossen und war 1995 zum Diakon geweiht, als mir die Möglichkeit eröffnet  wurde, im südoldenburgischen Vechta bei der Gemeinde und den Hilfsorganisationen Caritas und Malteserhilfsdienst ein zweimonatiges Praktikum zu machen“, berichtet Vaitiekunas.  Er griff sofort zu, auch als der für die Mission zuständige Prälat Eudenbach aus Bayern den jungen Diakon fragte: „Wollen Sie Deutsch lernen?“ So landete der Litauer später noch in Steppach bei Augsburg und paukte sich in einem Crash-Sprachkurs durch die deutsche Sprache und Grammatik.

Als einziger Deutsch sprechender Exot im Priesterseminar war Vaitiekunas  fortan in seiner Heimat ein gefragter Dolmetscher. „Mein Bischof sagte mir, er suche einen Deutsch sprechenden Priester, der die in Deutschland lebenden katholischen Litauer betreuen möchte. Ob ich Interesse hätte“, erinnert sich Vaitiekunas. Er sagte zu.  „Rund 30.000 katholische Litauer sind in Deutschland gemeldet. Doch die tatsächliche Zahl ist weitaus größer“, vermutet der Seelsorger, der reichlich Kilometer zu seinen Einsätzen zurücklegt.

Vidas Vaitiekunas fühlt sich wohl im europäischen Deutschland. Und ist froh, dass auch seine Heimat seit 2004 Mitgliedstaat der EU und Mitglied der Nato ist: „Das ist für Litauen ein großes Glück“, meint der Pfarrer. In dem „falschen System der Sowjetunion“ sei so viel kaputt gemacht worden. „Ich kenne keinen Litauer, auch keinen der älteren Generation, der den alten, kommunistischen Zeiten hinterhertrauert.“ Wird er irgendwann in seine Heimat zurückkehren? „Diese Pläne habe ich nicht“, antwortet Vaitiekunas. „Nein, ich bleibe in Deutschland.“ Anke Klapsing-Reich

Petya Alabozova aus Bulgarien, gehört zum Ensemble des Theaters in Aachen

Wenn sie Moussaka kocht, gehören dazu Kartoffeln statt Aubergine, wie im griechischen Rezept, sie liebt das Tanzen mit Freunden, Hand in Hand, und den so typischen bulgarischen Volksgesang mit seinen asymmetrischen Taktarten. „Man hat diese Art zu singen sogar ,Le Mystère des Voix Bulgares‘, die Wunder der bulgarischen Stimme genannt“, sagt Petya Alabozova stolz. Als Tochter eines Opernsängers muss es die 34-Jährige wissen.

Die Schauspielerin, die zurzeit zum Ensemble des Theaters Aachen gehört, war gerade einmal 16 Jahre alt, als sie ihre Heimat Sliven, einen Ort in Bulgarien, verlassen hat, um in Europa zu lernen, zu studieren, ihre Karriere aufzubauen. „Ich habe noch Verwandte dort, meine Großmutter, aber so etwas wie ein Kinderzimmer, einen Ort meiner Kindheit gibt es nicht“, sagt sie nachdenklich. Die Eltern sind geschieden. Vater lebt in Prag, Mutter in London. Stolz ist Petya Alabozova darauf, dass Bulgarien 2019 europäische Kulturhauptstadt sein wird und dass sie als Schauspielerin großen Anteil an dieser Kultur hat, die nun ein Jahr lang im Fokus Europas stehen wird.

Petya Alabozova, die neben Bulgarisch auch Französisch, Englisch und Italienisch spricht, fühlt sich nicht nur als Europäerin, sie lebt Europa und weiß eine Menge über die Union, der Bulgarien 2007 beitrat. Für die aufstrebende Theaterfrau ein Glücksfall. „Es hat so viele Dinge vereinfacht, die normalerweise kompliziert wären“, sagt sie. So wurde ihr Abschluss aus England in Frankreich anerkannt, konnte sie wie selbstverständlich ihr Studium in Deutschland aufnehmen. Längst ist sie Expertin im Ausloten von Fördermöglichkeiten, die die EU talentiertem Nachwuchs bietet. „Ich habe ausgeschöpft, was möglich war, habe am Erasmus-Programm teilgenommen und Stipendien erhalten“, erzählt sie. Dass sie inzwischen zum europäischen Theaterkollektiv ISO gehört, das sich einmal im Jahr zusammenfindet, ist ihr ganz wichtig. Zugleich will sie erfahren, wie die Menschen aus anderen Ländern Europas denken.

Bei aller Weltläufigkeit trägt Petya Alabozova dennoch ihre bulgarische Heimat im Herzen. Da ist die Neigung zu heftigen Gefühlsausbrüchen, zum Unvermögen, Emotionen zu verbergen. Wenn ihr etwas nahe geht, füllen sich die großen dunklen Augen rasch mit Tränen. Und Europa? Ihr war bisher gar nicht bewusst, dass die Union für sie neben der Heimat mehr als eine sachliche Bedeutung hat. Sie sagt: „Als ich in Indien oder Mexiko war, die feuchte Luft atmete, das Essen ausprobierte, hatte ich tatsächlich Heimweh nach Europa, das Gefühl einer Zugehörigkeit zur EU, das ich nicht vermutet hätte.“ Sabine Rother

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort