Das Fairtrade-Textilsiegel „Wir wollen existenzsichernde Löhne erreichen“

Interview | Düsseldorf · Die Textilproduktion beeinflusst das Klima und kann der Umwelt schaden, aber das ist nur eine Seite der Medaille. In der Kritik steht Mode auch aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen. Die Non-Profit-Organisation Fairtrade setzt sich für Arbeiterrechte und existenzsichernde Löhne in der Branche ein. Wie Fairtrade seine Ziele umsetzten will, darüber spricht Vorständin Claudia Brück im Interview.

Fairtrade-Baumwolle kommt aus Westafrika, Usbekistan, Kirgistan und wie hier aus Madhya Pradesh in Indien.

Fairtrade-Baumwolle kommt aus Westafrika, Usbekistan, Kirgistan und wie hier aus Madhya Pradesh in Indien.

Foto: Suzanne Lee/ Fairtrade Deutschland

Niedrige Löhne, unbezahlte Überstunden, Kinderarbeit, kein Arbeitsschutz oder Brandschutz, Kontakt zu giftigen und umweltschädlichen Chemikalien... Es ist eine lange Liste von Probleme und Risiken für Baumwollbauern, Näherinnen und Arbeiterinnen und Arbeitern in Färbereien, Webereien, in der Logistik, der Nachveredelung und in anderen Bereichen, die der Herstellung von Kleidung dienen. Umweltschutz und Sozialverträglichkeit bedingen sich dabei gegenseitig. Die Non-Profit-Organisation Fairtrade setzt sich für bessere Arbeitsbedingungen und existenzsichernde Löhne in verschiedenen Bereichen ein – auch in der Modeindustrie. Vorständin Claudia Brück spricht im Interview über die Hauptprobleme der Textilproduktion, wie Fairtrade die Rechte von Arbeiterinnen und Arbeitern stärken will und wie der Weg zur Produktion biologischer Kleidung verfolgt werden kann.

Was sind aus Ihrer Sicht die größten Probleme in der Textilindustrie?

Brück Die größte Herausforderung ist die Komplexität der Wertschöpfungskette. Es sind so viele Akteure beteiligt, dass die textile Lieferkette sehr unübersichtlich ist. Eine Jeans reist zwei bis drei Mal um die Welt, bevor sie zu uns gelangt. Weil jeder Schritt in einem anderen Land durchgeführt wird, wo es noch weniger Arbeitsrechte gibt und man noch billiger produzieren kann. Das ist ein Stück Nomadentum und das muss aufhören. Es braucht eine gewisse Grundverlässlichkeit, damit diejenigen, die Kleidung produzieren, wissen, sie haben jetzt einen Auftraggeber, der bleibt. Und deshalb lohnt es sich auch, in das eigene Business zu investieren. Das macht das doch keiner, wenn man nicht weiß, dass es morgen noch einen Auftrag gibt.

Möchte Fairtrade also Sicherheit schaffen für Fabrikbesitzer, damit diese Investitionen angehen?

Brück Ja. Damit nicht die ganze Karawane ins nächste Land weiterzieht, sobald in einem Land grundlegende Arbeiterrechte eingefordert werden.

Es gibt von Fairtrade zwei verschiedene Siegel in Bezug auf Textilien: „Fairtrade Cotton“ und „Fairtrade Textile Production“. Warum braucht es zwei unterschiedliche Zertifikate?

Brück Bei Fairtrade Cotton geht es nur um den Rohstoff. Da arbeiten wir mit Kooperativen und Vertragsanbauern zusammen. Es geht darum, dass die Menschen faire Preise für ihre Baumwolle erzielen und es geht um eine nachhaltige Anbauweise. Und auch in der nachfolgenden Kette müssen sich die Akteure an die ILO-Kernarbeitsnorm* halten. Bei dem Fairtrade-Textilstandard geht es darum, dass wir entlang der gesamten Wertschöpfungskette existenzsichernde Löhne erreichen wollen. Da geht es nicht nur um die Einhaltung der ILO-Kernarbeitsnorm, sondern es geht darum, dass es eine Arbeitermitbestimmung gibt, dass Löhne verhandelt werden können und dass diese jedes Jahr über den Inflationsausgleich angehoben werden. Damit jede und jeder innerhalb von sechs Jahren einen existenzsichernden Lohn erhält und zwar nicht nur in den Nähereien, sondern auch in den vorgelagerten Stufen, wie den Nassprozessen oder in der Spinnerei.

Sie sagten eben, dass die vielen Zwischenschritte das Hauptproblem in einer Wertschöpfungskette sind. Ist es dann nicht schwer, zu überprüfen, ob überall existenzsichernde Löhne gezahlt werden?

Brück Das ist es. Deshalb sind die ersten Partner, die wir haben, integrierte Produktionen, die nicht für jeden einzelnen Schritt eine neue Fabrik oder einen neuen Arbeitsplatz haben. Da finden die Nassprozesse beispielsweise auch in der Näherei statt. So lässt sich die Produktion besser überschauen und es müssen weniger Betriebe den Zertifizierungsprozess durchlaufen.

Claudia Brück ist Vorständin bei Fairtrade Deutschland. Sie ist insbesondere für die Bereiche Internationalisierung, Standardsetzung, Advocacy-Arbeit, Bildungsarbeit und Kampagnen zuständig.

Claudia Brück ist Vorständin bei Fairtrade Deutschland. Sie ist insbesondere für die Bereiche Internationalisierung, Standardsetzung, Advocacy-Arbeit, Bildungsarbeit und Kampagnen zuständig.

Foto: Hanna Witte/ Fairtrade Deutschland

Können sich Kunden beim Kauf eines T-Shirts mit Fairtrade Textile Production-Label dann darauf verlassen, dass existenzsichernde Löhne gezahlt wurden?

Brück Sie können sich darauf verlassen, dass Arbeiterrechte sowie ILO-Kernarbeitsnormen eingehalten werden und dass die Fabrik – da müssen sie dann auf den Anhänger oder auf den QR-Code, der am Kleidungsstück befestigt ist, gucken – entweder auf dem Weg ist, existenzsichernde Löhne zu zahlen oder dies bereits tut. Das ist von Kleidungsstück zu Kleidungsstück unterschiedlich. Wenn ein Kleidungsstück aus einer Lieferkette kommt, die seit sechs Jahren dabei ist, dann werden existenzsichernde Löhne bezahlt. Wenn es aus einer Lieferkette stammt, die erste seit drei Jahren dabei ist, dann ist die Fabrik auf dem Weg dorthin.

Und aus welchen Ländern stammt die Baumwolle oder das fertige T-Shirt?

Brück Fairtrade-Baumwolle gibt es aus Westafrika, Indien, Usbekistan und Kirgistan. Die Textilproduktion haben wir derzeit nur in Indien und wir fangen an, das Textilprogramm auch in Pakistan auszubauen. Und dort in den Fabriken Beschwerdemechanismen aufzubauen. Der Gedanke ist – und das ist die Arbeit, die wir schon lange machen, bevor die Fabriken zertifiziert werden – dass wir mit den Arbeiterinnen und Arbeitern über ihre Rechte, über Arbeitszeiten, über aktuelle Beschwerdemechanismen sprechen. Oft ist es so, dass in diesen Textilfabriken junge Frauen arbeiten, die froh sind, dass sie einen Job haben und deshalb auch so anfällig sind für Übergriffe oder schlechte Arbeitsplätze, weil sie gar nicht wissen, was ihnen rechtlich zusteht.

 Näherinnen in einer indischen Fabrik, die mit dem Textilsiegel „Fairtrade Textile Production“ ausgezeichnet ist.

Näherinnen in einer indischen Fabrik, die mit dem Textilsiegel „Fairtrade Textile Production“ ausgezeichnet ist.

Foto: Anand Parmar/ Fairtrade Deutschland

Erfahren Arbeiterinnen und Arbeiter dann auch die Unterstützung, um ihre Rechte durchzusetzen?

Brück In Fairtrade-Fabriken gibt es Komitees, die sich darum kümmern. Einerseits muss in jeder Fabrik ein Compliance-Komitee gebildet werden, das sich um die Einhaltung der Fairtrade-Standards kümmert und an das sich jeder wenden kann, wenn ein Verstoß oder auch nur der Verdacht eines Verstoßes vorliegt. Und es gibt ein klassisches Arbeiterrechte-Komitee, in dem es speziell um Arbeitszeiten und Löhne geht. Das sind zwei Komitees, die in jeder Fabrik eingerichtet sind und die auf die Unterstützung des Managements zählen können.

Aber das erfordert dann immer auch die Zustimmung der Produktionsstätte. Fairtrade kann nicht beispielsweise bei den Näherinnen starten.

Brück Natürlich. Wir brauchen die Unterstützung des Managements. Bei uns geht es darum, dass wir versuchen, Märkte zu eröffnen. Bei den fünf Lieferketten, die wir jetzt umgestellt haben, war es jeweils so, dass wir in Deutschland eine Marke hatten, die umstellen wollte und die den Fabrikbesitzern gesagt hat: Ich werde bei euch einkaufen, wenn ihr diesen Zertifizierungsprozess macht. Außerdem haben wir empirische Daten, die belegen, dass trainierte Arbeiterinnen und Arbeiter seltener krank sind, weniger Fehler machen und länger in den Betrieben bleiben. Das sind alles geldwerte Vorteile, die dann umgelenkt werden in höhere Löhne.

Und wie sehen die Unterstützungsprojekte für kleine Betriebe oder Kleinbauern aus?

Brück Fairtrade ist dezentral aufgebaut. Wir haben im globalen Süden, also in Asien, Afrika und Lateinamerika, Produzentennetzwerke, die darauf spezialisiert sind, Trainings anzubieten. In regelmäßigen Besuchen entwickeln sie zusammen mit den Landwirten Wirtschaftsplänen, gucken, wo es Schwierigkeiten gibt und versuchen, Lösungen zu finden. In den Trainings geht es dann beispielsweise um Frauenförderung oder Kindesschutz. Im Industriekontext haben wir ein Schulungsprogramm für Fabriken aufgesetzt mit fünf Themenschwerpunkten. Dieses führen wir regelmäßig vor Ort in den Betrieben durch. Da geht es um Risikoabschätzung, um umweltfreundlichere Verarbeitung, um Arbeiterrechte, Beschwerdemechanismen und auch um Betriebswirtschaft. Also eine Unterstützung der Fabrikbesitzer, damit sie nachhaltiger und trotzdem marktkonform arbeiten können.

Sie sagten, es wird auch auf Umweltthemen geachtet. Aber Fairtrade ist ja nicht gleich Bio.

Brück Wir kommen aus der Sozialecke. Aber seit mindestens 20 Jahren ist deutlich, dass wir im Umweltbereich Kriterien aufbauen müssen, weil das zwei Seiten einer Medaille sind. Und nur in einer gesunden Umwelt können auch gute Produkte entstehen. Wenn wir uns den Baumwollstandard angucken, beziehen sich ein Viertel der Kriterien auf den Umweltbereich: Also Wassermanagement, Abfallmanagement, welche Pestizide dürfen genutzt und nicht genutzt werden. Auch im Textil Standard haben wir ökologische Komponenten: Wie wird gefärbt, was ist mit dem Abwasser? Und unser Ziel ist es, in Richtung biologischen Anbau zu beraten. Die meisten Kooperativen, mit denen wir zusammenarbeiten, haben die Umstellung auf Bio geschafft. Das heißt, ungefähr 70 Prozent der Fairtrade-Baumwolle ist gleichzeitig auch Bio-Baumwolle.

Den Betrieb von konventionellem Baumwolle-Anbau auf Fairtrade oder Bio umzustellen ist aufwendig. Wie können kleine Produzenten das stemmen?

Brück Baumwollbauern schließen sich bei Fairtrade in Produzentenorganisationen zusammen. Dadurch tragen sie die Kosten für Investitionen gemeinsam. Und wir locken damit, dass wenn die Umstellung auf Bio geschafft ist, dann gibt es neben dem Fairtrade-Preis und der Fairtrade-Prämie auch noch einen höheren Marktpreis für die Bio-Baumwolle. Das ist für viele auch noch mal ein zusätzlicher Anreiz. Auf Fabrikseite gibt es für eine Umstellung auf Fairtrade in der Regel zwei Gründe. Der eine ist intrinsischer Natur, weil die Besitzer sagen: Wir wollen das jetzt anders machen. Und der andere ist von außen gesteuert, beispielsweise, weil es einen Marktpartner gibt, der Fairtrade-Produkte nachfragt.

Aber in der Zeit, in der die Umstellung erfolgt, haben Kleinbauern erst mal kein Einkommen, oder?

Brück Doch, sie können ihre Baumwolle weiterhin als Fairtrade-Ware verkaufen. Der Mindestpreis und die Prämien sind ein Sicherheitsnetz nach unten. Fairtrade ist das einzige Standardsystem, das mit Mindestpreise und Festprämien agiert und deswegen ist es für viele attraktiv.

Fairtrade wird oft gar nicht so sehr mit Textilien in Verbindung gebracht. Andere Zertifikate sieht man viel häufiger. Strebt Fairtrade an, mehr Partner zu gewinnen und das Siegel auszubauen?

Brück Ja, das ist unser Ziel. Als wir 2007 angefangen haben in der Baumwolle zu arbeiten, gab es so gut wie keine Ansätze für den Rohstoff. Die ganze Diskussion hat sich auf die Verarbeitung, auf die Nähereien, beschränkt. Wir wollen erreichen, dass in der gesamten Wertschöpfungskette existenzsichernde Löhne gezahlt werden.

Textilsiegel - Orientierungshilfen für nachhaltigen Mode-Konsum
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Was bedeuten die wichtigsten Textilsiegel?

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Foto: dpa/Britta Pedersen

*ILO-Kernarbeitsnorm: Die internationalen Arbeits- und Sozialstandards der ILO (Internationale Arbeitsorganisation) umfassen fünf Grundprinzipien: „Vereinigungsfreiheit und Recht auf Kollektivverhandlungen, Beseitigung der Zwangsarbeit, Abschaffung der Kinderarbeit, Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf und Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit“.

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