Der Kölner Psychiater und Theologe Dr. Manfred Lütz Überlebensstrategien für eine blockierte Kirche

Von Heribert Brinkmann

Von Heribert Brinkmann

Die Situation der katholischen Kirche mit der schwierigen Konstellation einer Alkoholikerfamilie zu vergleichen, ist eine gewagte These. Der aus vielen Fernsehsendungen bekannte Kölner Psychiater und Theologe weiß genau, wovon er schreibt: Er kennt sich in beiden Bereichen aus. Sein unterhaltsam geschriebenes Buch "Der blockierte Riese - Psycho-Analyse der katholischen Kirche" geht durchaus seriös der Frage nach, ob und wie dem "Dinosaurier Kirche" mit den Erkenntnissen moderner Psychotherapie zu helfen ist. Um die Problemtrance der Kirche zu lösen, konzentriert sich Lütz auf die verborgenen Ressourcen der katholischen Kirche, ihre vitalen Impulse und Selbstheilungskräfte. Ein Comeback erscheint dem Autor möglich.

Sie haben das Buch "Der blockierte Riese" geschrieben. Das Buch, eine "Psycho-Analyse der katholischen Kirche", hat sich als Bestseller erwiesen. Wer blockiert den Riesen katholische Kirche?

Lütz: Ich glaube, dass sich der Riese selbst blockiert, nicht absichtlich, sondern unabsichtlich. In Deutschland spüren wir dieses Phänomen besonders deutlich. Vielleicht erzähle ich Ihnen einfach, wie ich auf die Idee zu diesem Buch gekommen bin. Ich war zehn Jahre lang Chefarzt einer Suchtklinik. Dort haben wir ganz moderne Methoden entwickelt, wie man Alkoholikerfamilien behandelt. Das sind immer schwierige Familienkonstellationen: Es gibt Spaltungen, Depressionen, Frustrationen. Alle sind in solchen Familien furchtbar beschäftigt, bestens Willens - und es kommt nichts dabei heraus. Da ich auch in kirchlichen Kreisen zu tun habe, fiel mir auf, dass die Mentalität in der katholischen Kirche inzwischen zunehmend der einer Alkoholikerfamilie ähnelt: Spaltung in Konservative und Progressive, Frustrationen, dauerndes Klagen. Ich kenne viele Leute aus beiden Lagern und musste feststellen, dass die psychologische Mentalität identisch ist. Beide sind nur noch am Jammern. Interessant ist, dass formal die Analyse der Krise auch identisch ist: Ursache der Krise ist - die jeweils andere Fraktion. So eine Konstellation ist klassisch für die Alkoholikerfamilie. Da gibt es die sogenannten Retter auf der einen Seite, die die Flaschen wegräumen, den Betroffenen beim Arbeitgeber krankmelden und dafür sorgen, dass die Fassade aufrecht erhalten wird. Und es gibt die sogenannten Verfolger, meistens pensionierte Retter, die irgendwann so entnervt sind, dass sie mit dem Alkoholiker kein Wort mehr reden, wenn er nicht das Saufen aufgibt. So entspinnt sich dann häufig ein Titantenkampf zwischen Rettern und Verfolgern, und der Alkoholiker kann in aller Ruhe weitertrinken. Diese Konstellation mit den einen, die die Kirche ganz "persönlich" retten wollen und den anderen, die - natürlich mit bester Absicht - auf die Kirche eindreschen, um sie zu verbessern, war die kühne Parallele, die zur Grundlage meines Buches wurde. Warum sollte man nicht Sichtweisen moderner Psychotherapie, zum Beispiel der Familientherapie, auch einmal auf das Thema Kirche übertragen. Wenn man durch solche Sichtweisen Alkoholikerfamilien sehr schnell behilflich sein kann, warum nicht analog auch der Kirche? Ich habe übrigens nie gesagt, die katholische Kirche ist eine Alkoholikerfamilie, sondern nur, man könnte dort gut funktionierende Methoden analog auf sie anwenden.

Für mich ist noch nicht klar, was das spezifisch Kirchliche an der analogen Konstellation einer Alkoholikerfamilie ist. Das Bild der zwei Fraktionen kann man ja auf die ganze Gesellschaft übertragen. Es gibt immer welche, die bewahren wollen, und andere, die alles verändern wollen. Warum dann gerade die Kirche?

Lütz: Weil ich es dort am intensivsten erlebe. Es ist in der Tat nichts spezifisch Kirchliches. Nur habe ich den Eindruck, dass sich gerade bei der katholischen Kirche in Deutschland die Progressiven und Konservativen so heftig ineinander verbissen haben, dass es besonders anstrengend ist. Vor allem: Die wesentlichen Botschaften der Kirche gehen unter, weil dieser Kampf so im Vordergrund steht. Junge Patienten, die ich nach Selbstmordversuchen behandele und die nach dem Sinn des Lebens fragen, kann ich doch kaum in eine Pfarrgemeinde schicken, die, wie vor Jahren nicht selten, zum Beispiel gerade über die Ministrantinnenfrage streitet. Man beschäftigt sich in der Kirche meiner Meinung nach zu viel mit zweitwichtigen Sachen, und zwar fast rituell immer mit den gleichen Themen: Frauenpriestertum, Zölibat, Sexualmoral, Papst. Das sind für mich alles zweitwichtige Fragen.

Für Kirchenvertreter sind das doch sehr entscheidende Fragen.

Lütz: Ich habe sowohl mit Konservativen wie mit Progressiven darüber diskutiert. Beide Seiten geben zu, dass auf dem Sterbebett Fragen wie Frauenpriestertum, Zölibat oder Papst völlig unwichtig sind. Ich glaube, je mehr wir in der Kirche über das reden, was eigentlich wichtig ist, desto mehr kommen wir zu ganz anderen Debatten. Sobald man etwa die Frage, wie man den Glauben an Kinder weitergibt, anschneidet, werden beide Fraktionen plötzlich sehr nachdenklich. Oder die Frage, wie integriere ich das Beten in einen stressigen Berufsalltag. Das sind wichtige Fragen, das ist das Benzin, mit dem der Wagen läuft. Wir reden dauernd nur über Lackschäden.

Um beim Bild der Alkoholikerfamilie zu bleiben: Auf die Kirche übertragen, heißt das doch wohl, dass die Institution Kirche der Kranke ist.

Lütz: Nein, nicht die Kirche als Institution. An eine Alkoholikerfamilie erinnert der Umgang der Menschen miteinander, die diese Institution ausmachen. Konservative wie Progressive in der Kirche sind beide motiviert, den Glauben zu verkünden. Aber sie sind dauernd so mit sich selbst beschäftigt, dass nach draußen oft keine Verkündigung, sondern nur noch Lärm herauskommt. Ein Problem dabei ist die Konservativität der Progressiven. Ich bin der Auffassung, dass es das konservative katholische Milieu immer noch gibt, dass es aber in zwei konservative Gruppen zerfallen ist, von der die eine allerdings nicht recht merkt, wie konservativ sie ist. Der katholische Progressive ist ja schon soziologisch nicht gerade der Revolutionär, der mit Ballonmütze und karierten Haaren daherkommt. Ist es nicht eine Zumutung, dass heutigen Frauen mit großem Nachdruck die Hoffnung aufs Frauenpriestertum eingeredet wird, obwohl man weiß, dass sie nicht erfüllt wird? So etwas nennt der bekannte amerikanische Psychotherapeut Paul Watzlawick "eine sorgfältig geplante Frustration". Es wäre viel wichtiger, mehr realen Einfluss von Frauen in der Kirche zu fordern, statt sich auf utopische Klerikalfragen zu versteifen. Warum sind nicht mindestens die Hälfte aller Hauptabteilungsleiter im Generalvikariat Frauen, einschließlich des Finanz- und Personalchefs? Das wären wirkliche Machtpositionen. Da könnte sich eine Frau über einen machohaften Pfarrer bei einer Frau wirksam beschweren. Soziologisch interessant ist, dass die "Progressiven" eine solche Forderung nicht stellen. Wer Forderungen stellt, die nicht zu erfüllen sind, kann im Klageritus verharren. Das ist im Grunde nicht progressiv, sondern konservativ.

Das war die Diagnose. Welche Therapie empfehlen Sie dem Patienten Kirche?

Lütz: Die klassische Psychoanalyse, von der sich heute auch die meisten Psychoanalytiker gelöst haben, verlief vielfach nach dem Muster: Sie haben ein Problem? Da habe ich noch eins für sie! In der modernen Psychotherapie gehen wir demgegenüber heute ressourcenorientiert vor. Das heißt, wir fragen einen depressiven Patienten nicht immer bloß nach den Ursachen, sondern möglichst bald Fragen wie diese: Wie haben Sie das eigentlich mit Ihrer Depression so lange durchgehalten? Und auf diese Frage erzählt der gleiche Patient eine ganz andere Geschichte als auf die Ursachen-Frage. Wesentlich positiver natürlich, er erzählt nämlich von seinen eigenen Kräften und Ressourcen.

Wie übertragen Sie das auf die Kirche?

Lütz: Zum Beispiel: Fragen Sie einen Kreis von gutgestimmten Priestern einmal, wie es um den Besuch ihrer Kirchen bestellt ist. Bums, sofort verfinstern sich die Gesichter und die Frage steht im Raum: Warum gehen immer weniger Menschen in die Kirche? Viel spannender und vielleicht auch nützlicher finde ich aber die Antwort auf die Frage: Warum gehen immer noch so viele Menschen in die Kirche? Denn die Heilige Messe ist auf den ersten Blick eine langweilige Veranstaltung. Immer der gleiche Ritus, nichts Neues, nicht lustig, oft eine langweilige Predigt, also nichts wirklich Attraktives. Die Heilige Messe ist vom Entertainement her langweilig. Dennoch gehen fünf Millionen Deutsche jeden Sonntag zur Messe. Warum? Möglicherweise suchen die etwas anderes als Entertainement, möglicherweise das Heilige in dieser Gesellschaft, das Ewige, etwas Bleibendes, das sie trägt und ihnen hilft, die Lasten und Freuden des Lebens zu tragen. Das dauernde Klagen und Jammern widerspricht der Frohen Botschaft Christi. Also: über die Ressourcen der Kirche reden, über gelingendes Christentum, über Heilige, über Menschen, die ihren Glauben überzeugend bekennen oder die ihn in uneigennütziger Nächstenliebe tun. Kurzgesagt glaube ich, die Krise der Kirche liegt daran, dass von vier Wesensvollzügen der Kirche vor Ort oft nur noch zwei gelebt werden: der eine ist der Ritus des sonntäglichen Gottesdienstes, der zweite ist die kirchliche Gemeinschaft im gemeinsamen Linsensuppe-Essen auf dem Pfarrfest. Da muß man sich nicht wundern, dass jungen Leuten ein solches "Christentum" nicht mehr plausibel ist.

Was ist mit den beiden anderen Wesensmerkmalen der Kirche?

Lütz: Einmal das Bekenntnis. Gerade in einer multikulturellen Gesellschaft ist das Bekenntnis wieder besonders gefragt. Wenn ein Muslim einen rheinischen Katholiken fragt, warum er denn an drei Götter glaube, dann reicht nicht der hilflose Verweis auf den Herrn Pfarrer oder den Herrn Pastoralreferenten. Die Theologen sollen dem Glauben dienen, sie können aber nicht das Bekenntnis ersetzen. Jeder Christ ist durch die Taufe berufen und verpflichtet, sich über seinen Glauben kundig zu machen und sich zu seinem Glauben tapfer zu bekennen. Wir können nicht nach dem Motto leben, ich bin katholisch, aber es soll nicht wieder vorkommen. Ich bin gegen den dünnen Malzkaffee-Katholizismus, der sich dauernd für sich selbst entschuldigt. Windschnittige christliche Spezialisten für möglichst wenig Gegenwind sind nicht gefragt. Der vierte Punkt ist die Diakonia, die tätige Nächstenliebe, die wir Caritas nennen. Ich bin der Auffassung, man muss die Caritas wieder mehr in die Gemeinden zurückholen. Die Fachleute und die Caritasverbände sollen dieser Caritas helfen, aber sie können sie nicht ersetzen, denn sie sind nicht Caritas, sie dienen ihr bloß. Vor allem im caritativen Bereich werden die kirchlichen Apparate oft so erdrückend, dass sie auch die Vitalität einschränken. Kardinal Meisner hat mit Recht vor der Überinstitutionalisierung der Kirche gewarnt. Wenn also die Kirche vor Ort sich nur noch als eine Ritus-Gemeinschaft versteht, wird die Frage, wer die Hostien verteilen darf, unerträglich wichtig. Für den Nicht-Christen klingen solche Debatten absurd. Die Kirche zu vitalisieren, bedeutet unter anderem, wieder über die spirituellen Schätze der Kirche zu reden. Man sollte die Andersartigkeit des Anderen in der selben Kirche als eine Ressource, als eine erfreuliche Ergänzung sehen lernen. Ein Ziel des Buches ist: Konservative sollen nicht dauernd darunter leiden, dass es Progressive gibt und die Progressiven umgekehrt nicht an der Existenz der Konservativen, sondern man sollte Unterschiedlichkeit in der einen Kirche als Bereicherung verstehen. Konkurrenz wäre da ein nützlicher Begriff. Konkurrenz heißt wörtlich: gemeinsam auf ein Ziel hinlaufen, aber auf unterschiedlichen Bahnen, freilich unter der Voraussetzung gewisser Randbegrenzungen.

An welche Konkurrenz denken Sie da?

Lütz: Nehmen Sie die traditionelle Konkurrenz in der katholischen Kirche zwischen den Orden. Das ist psychologisch eigentlich kaum möglich. Da ist etwa ein Franziskaner. Der hat auf Familie und Kinder verzichtet, um ganz radikal der Armutsregel des heiligen Franziskus zu folgen und den Mühseligen und Beladenen zu dienen. Wenige Kilometer entfernt lebt ein Prämonstratenser, der mit gleicher Radikalität der Regel des heiligen Norbert folgt, in einer österreichischen Prämonstratenser- Abtei mit eigener Brauerei und herrlicher Barockbibliothek, hochgelehrt und ein glänzender Prediger. Sobald der Franziskaner auch nur denkt, er sei eine bessere Form von Katholik, ist er nicht mehr katholisch, und für den Prämonstratenser gilt das gleiche umgekehrt. Der Zwang zur Toleranz innerhalb der katholischen Kirche ist eigentlich ein faszinierendes Phänomen und das organisationspsychologische Überlebens-Geheimnis dieser uralten Institution. Da können Unternehmen heute sogar lernen, was schon seit 2000 Jahren funktioniert.

Was erzählen Sie denn Unternehmen, welche kirchlichen Strategien vorbildlich seien?

Lütz: Da gibt es ein glänzendes Beispiel, wie man mit ganz unterschiedlichen Auffassungen zu einer wichtigen Angelegenheit und heftigstem Streit darüber in der gleichen Institution nützlich umgehen kann. Es handelt sich um den Gnadenstreit zwischen Jesuiten und Dominikanern im Spanien des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Beide Orden waren zur Gnadenlehre, einem zweifellos für Christen äußerst wichtigen Thema, in heftigsten Streit geraten. Die Jesuiten forderten nicht mehr und nicht weniger als die Verurteilung der dominikanischen Gnadenlehre als häretisch. Die Dominikaner ihrerseits forderten die Verurteilung der Jesuiten aus gleichem Grund. Schließlich sollte der Papst entscheiden, aber der war auf aussichtslosem Posten. Wieimmer er entschied, es wäre wohl die Katastrophe für die katholische Kirche geworden. Eine Verurteilung der Jesuiten in dieser zentralen Frage wäre wahrscheinlich der Untergang des Jesuitenordens gewesen. Eine Verurteilung des Dominikanerordens und der Gnadenlehre des heiligen Thomas von Aquin hätte eine tiefe Erschütterung der gesamten katholischen Theologie bedeutet. Zehn Jahre lang debattierten die berühmtesten Theologen der Welt zu Füßen des Papstes und einer Kardinalskommission über die Gnadenlehre - ohne Ergebnis. Der Papst starb, ohne eine Entscheidung getroffen zu haben. Sein mittelbarer Nachfolger Papst Paul V. ließ weiter tagen und schließlich nach weiteren 2 Jahren entschied der Papst im Jahre 1607 kurz und bündig: Jahrelange Debatten haben keine Einigkeit zwischen den beiden Orden in der Gnadenlehre erbracht, daher verbiete er, künftig die jesuitische Gnadenlehre als häretisch darzustellen und ebenso verbiete er, die dominikanische Gnadenlehre zu verketzern. Alles Weitere werde zu gegebener Zeit entschieden - was bis heute nicht geschehen ist. Der Streit war gelöst, indem beide geistigen Kräfte der katholischen Kirche auch weiterhin zur Verfügung standen.

Ein genialer Papst, aber muss der Papst unbedingt unfehlbar sein?

Lütz: Die Unfehlbarkeit des Papstes ist eines der unverstandensten katholischen Dogmen. Jeder Kundige weiß, dass der Papst in den allermeisten Fällen nicht unfehlbar ist. Ja man könnte einmal provozierend formulieren: Die katholische Kirche ist eine der liberalsten Organisationen der Welt, in ihr ist von einer Milliarde Mitgliedern nur einer unfehlbar, und das nur ganz selten, das gilt schon von keinem deutschen Stammtisch. "Definition" der Unfehlbarkeit, wie sie auf dem I. Vatikanischen Konzil vorgenommen wurde, heißt nämlich wörtlich übersetzt "Begrenzung". Insofern ist das Unfehlbarkeitsdogma in der Praxis wirksam als Unfehlbarkeitsverbot. Die lockere Art des Rheinländers kommt ja vielleicht nicht zuletzt daher, dass es ihm verboten ist, unfehlbar zu sein, ganz im Gegensatz zur regelungswütigen preußischen Besatzung.

(NGZ)
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