Im NGZ-Gespräch: Dr. Lale Akgün Identität ist mehr als die ethnische Herkunft

Von Susanne Niemöhlmann

Von Susanne Niemöhlmann

Das Zusammenleben von Menschen verschiedener Nationalitäten verläuft nicht immer spannungsfrei. Das weiß auch Dr. Lale Akgün, Leiterin des Landeszentrums für Zuwanderung Nordrhein-Westfalen. Im Gespräch mit der NGZ ging es unter anderem darum, ob Deutschland ein Einwanderungsland ist, wie Integration gelingen kann und warum es ihr vor zwanzig Jahren wichtig war, sich einbürgern zu lassen.

Frau Dr. Akgün, Sie sind seit 21 Jahren deutsche Staatsangehörige. Warum war es Ihnen ein Bedürfnis, eingebürgert zu werden?

Dr. Lale Akgün: Als mir bewusst wurde, dass ich nicht nur losgegangen, sondern auch angekommen bin und mich hier zu Hause fühle, war es für mich selbstverständlich, mich einbürgern zu lassen, damit ich an allem teilhaben kann — auch politisch.

Was gehört dazu, anzukommen, sich zu Hause zu fühlen?

Akgün: Verantwortung zu übernehmen, ist für mich ganz wichtig. Sich als Teil dieser Gesellschaft zu verstehen — mit allen Fehlern und allen guten Seiten. Nicht mehr am Spielrand stehen und die anderen von außen kritisieren, sondern mitspielen — auch auf die Gefahr hin, selbst Fehler zu machen oder auch einmal gefoult zu werden.

Wie kann Integration gelingen?

Akgün: Integration ist keine Einbahnstraße, wie es oft heisst. Dazu stehe ich. Damit ich mitspielen kann, müssen die anderen mir das auch ermöglichen. Andererseits darf ich mich nicht zieren, wenn ich zum Mitspielen aufgefordert werde. Beide Seiten müssen Bereitschaft zeigen. Das ist die einzige Möglichkeit, Integration zu gestalten.

Was tun Sie im Landeszentrum für Zuwanderung konkret dafür?

Akgün: Wir arbeiten nicht direkt mit den Betroffenen, sondern eher auf der zweiten Ebene und wenden uns an Multiplikatoren. Das Landeszentrum ist eine Institution, die der Vernetzung von Wissenschaft und Praxis dient. Das klingt sehr abstrakt. Unsere Aufgabe ist es, jene, die in der Praxis arbeiten, mit besserem Handwerkszeug zu versorgen. Wir sind dabei, unsere Internetseiten so zu gestalten, dass sie Wissenschaftler, Praktiker und Journalisten bei der Recherche unterstützen. Wir sorgen dafür, dass wissenschaftliche Erkenntnisse Eingang in die Praxis finden und arbeiten wir sehr Service-orientiert.

Hat das Landeszentrum für Zuwanderung eine Vorreiter-Rolle?

Akgün: Ja, ganz sicher. Ein Beispiel: Nordrhein-Westfalen beschäftigte sich als erstes Bundesland mit dem Thema Anti-Diskriminierung und fördert Projekte unterschiedlichster Art, die wir begleitet haben. Unsere Ergebnisse und Empfehlungen haben wir der Landesregierung zur Verfügung gestellt. Artikel 13 des Amsterdamer Vertrages sagt, dass alle Nationalstaaten bis zum Jahr 2003 Strukturen bereithalten müssen, um der Diskriminierung entgegen zu wirken. Somit haben wir in Nordrhein-Westfalen einen zeitlichen Vorsprung.

Wie stellt sich die Situation hierzulande derzeit dar?

Akgün: Nordrhein-Westfalen hat rund 18 Millionen Einwohner, darunter zwei Millionen Ausländer sowie 600 000 Spätaussiedler. Das ist im Verhältnis zu anderen Bundesländern sehr viel. Und die gucken natürlich auch, was NRW macht. Einmal im Jahr laden wir zu einem Wissenschaftsforum ein. Auf der anderen Seite haben wir in NRW eine sehr fundierte Praxislandschaft, zu der auch die Wohlfahrtsverbände gehören. Was bisher gefehlt hat, war ein Scharnierstück zwischen Wissenschaft und Praxis. Diese Verbindung haben wir jetzt installiert. Dadurch, dass wir die Praktiker mit Internet-Angeboten, Print-Produkten, Tagungen, Workshops und Weiterbildung bedienen, haben sie die Möglichkeit, ihre Arbeit vor Ort zu gestalten. Und auf diesem Wege hat auch der Bürger in Neuss etwas von unserer Arbeit.

Sind Sie persönlich schon einmal diskriminiert worden?

Akgün: Ja, ein Mal. Bei einem irre geleiteten Telefonat sagte jemand: "Scheiß Türken!" und legte auf. Das hat mich richtig geschockt. Aber diese bittere Erfahrung machen Minderheiten tagtäglich, ob sie nun Türken, Behinderte oder geschlechtlich anders orientiert sind.

Mit Sprachkursen allein ist noch keine Integration gelungen. Wie kann man Menschen aus anderen Ländern helfen, hier heimisch zu werden?

Akgün: Sie fragen mich jetzt natürlich aus der Sicht, was eine Mehrheits-Gesellschaft tun kann, um zu integrieren. Ich denke, von der Gesellschaft muss das Signal ausgehen: Ihr seid willkommen, Ihr gehört dazu. Mit dieser Frage werden wir uns in nächster Zeit sehr viel beschäftigen, wenn wir wirklich über die Greencard Eliten in unser Land holen wollen. Ich finde es völlig in Ordnung, dass ein Staat Eliten ins Land holen möchte. Aber wer kommt schon als Elite gern in dieses Land, wenn er Angst haben muss, wegen seiner Hautfarbe oder seines anderen Aussehens diskriminiert zu werden? Eine entschiedene Bekämpfung des Rassismus gehört für mich zu den Grundlagen einer guten Integrations- Politik, wobei ich Anti-Rassismus-Politik und Integrationspolitik trotz vieler Berührungspunkte nicht zusammenwerfen möchte. Ich halte es für eine Voraussetzung, dass die Menschen nicht das Gefühl haben, wegen der anderen ethnischen Abstammung für minderwertig erachtet zu werden. Für jene, die jetzt hier leben, halte ich die soziale Integration für wichtig. Wir müssen den Zugewanderten soziale Aufstiegsmöglichkeiten durch schulische und berufliche Angleichung bieten. Wenn das nicht gelingt, ist alles andere nur Beiwerk.

Sehen Sie da Fortschritte in den vergangenen Jahren?

Akgün: Ja, natürlich. Wir arbeiten daran und sind auf einem guten Weg, aber wenn Sie sich Statistiken ansehen, stellen Sie fest, dass Migranten in vielen Punkten — vom Einkommen über die Wohnfläche bis hin zu ihrer beruflichen Stellung beziehungsweise Arbeitslosigkeit — zu einer benachteiligten Gruppe gehören. Im Vergleich dazu treffen Sie nur auf ganz wenige Migranten, die Schlüsselpositionen besetzen. Das zieht sich durch alle Bereiche. In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir eine Verbesserung der Schulabschlüsse von Migrantenkindern erreicht. Im gleichen Zeitraum hat sich aber die schulische Qualifikation deutscher Kinder ungleich stärker verbessert. Dadurch ist die Schere weiter auseinander gegangen. Neben der sozialen Angleichung müssen wir auch im gesellschaftlichen Leben eine Normalität erreichen, indem auch symbolische Positionen von Migranten besetzt werden, so könnte beispielsweise ein Zugewanderter Ehrenobermeister einer Handwerksinnung werden.

Was halten Sie von Komikern, die Türken-Klischees transportieren, oder der neuen Kult-Sprache "Kanakisch"? Spiegelt sich hierin ein neues Selbstbewusstsein der türkischen Jugendlichen? Trägt es vielleicht sogar zur Normalität bei, wenn man über so etwas lachen kann? Oder empfinden Sie dergleichen als diskriminierend?

Akgün: Wenn man sich selbst einmal ironisch distanziert betrachtet und sich über sich selbst lustig macht, halte ich das für sehr erfrischend. Dass Kanakisch zur Kultsprache wird, wundert mich nicht. Es war schon immer so, dass Außenseiter der Gesellschaft Dinge prägten, die dann von der Avantgarde aufgenommen wurden. Wenn wir da anfangen würden zu tabuisieren und die political correctness bemühen, würden wir den Menschen schon wieder die Chance nehmen, sich unverkrampft mit der Sache auseinander zu setzen. Das zeigt doch auch, dass sich diese nebeneinander her lebenden kleinen Welten öffnen und, hoffentlich, zu einem großen Ganzen zusammenschließen.

Wie weit sollte Integration gehen? Gerade muslimische Eltern befürchten ja oftmals, dass ihre Kinder ihre Kultur aufgeben, wenn sie sich an die westliche Lebensweise anpassen.

Akgün: Das sind meist grundlose Befürchtungen. Identität wird immer mit religiöser und / oder ethnischer Identität gleichgesetzt, dabei ist sie viel mehr. Natürlich spielt die Biographie und Herkunft eine Rolle. Aber Identität umfasst doch so viel mehr Facetten einer Entwicklung und einer Persönlichkeit, als die Frage, ob man Türke oder Deutscher, Muslim oder Christ ist. Da schaue ich ein wenig neidisch ins Nachbarland Niederlande, wo man uns darin wieder ein Stück voraus ist. Dort wird nicht von Migranten oder Ausländern gesprochen, sondern von Allochthonen (griech.: nicht an Ort und Stelle entstanden) und Autochthonen (griech.: Ureinwohner). So hat im Grunde jeder die Chance, für sich selbst zu entscheiden, ob er sich als Allochthone oder Autochthone versteht, ohne die ethnische Frage zu berühren. Durch diese fließenden Übergänge haben die Menschen die Möglichkeit, ihre Persönlichkeit weiter zu fassen, als nur über ihre ethnische Herkunft, die ich natürlich nicht wegleugnen will. Wenn man Kinder zu einer selbstständigen Persönlichkeit erzieht, dann haben sie genug Stabilität, selbst zu entscheiden, was gut und was schlecht für sie ist. In meiner früheren Tätigkeit als Familienberaterin habe ich versucht, den Eltern das zu erklären: Wenn ich mein Kind ständig unterdrücke, wird es sich auch anderswo unterordnen. Es hat ja nichts anderes gelernt.

Für viele Jugendliche ist der Spagat zwischen der Kultur ihres Gastlandes und der ihres Herkunftslandes schwierig. . .

Akgün: Kinder können sehr spielerisch mit kulturellen Elementen umgehen. Sie haben nicht dieses Entweder- Oder, sondern integrieren in sich selbst die kulturellen Besonderheiten, die sie für wichtig halten und die für ihre Entwicklung gut sind. Das müssen sie ja auch schon machen, wenn Vater und Mutter zusammen-kommen. Nichts ist so interkulturell wie eine Ehe. Da kommen zwei Menschen aus völlig unterschiedlichen Familienkulturen zusammen. Kinder sind nicht hin und her gerissen zwischen zwei Welten, sondern bedienen sich aus zweierlei Ressourcen. Jeder weiss, dass sich Kinder bei den Großeltern anders benehmen als zu Hause. Diese Art der interkulturellen Kompetenz muss man sich nur eine Stufe höher vorstellen. Nichts anderes ist interkulturelle Kompetenz, als mit beiden Kulturen umgehen zu können.

Manchmal summieren sich Benachteiligungen: Nehmen wir ein türkisches Mädchen, das die deutsche Sprache nicht beherrscht und dann den Schulabschluss nicht schafft . . .

Akgün: Das ist eine soziale Benachteiligung und damit für mich eine andere Baustelle. In Kürze feiern wir den 40. Jahrestag der Anwerbung aus der Türkei. In erster Linie wurden Menschen für die Arbeitsbereiche der Unund Angelernten angeworben, also für den unteren Arbeitsmarkt. Dementsprechend sind Menschen hergekommen, die in ihrer Heimat bereits sozial benachteiligt waren, und das hat sich hier summiert, weil sie ausgegrenzt wurden oder auch weil sie andere Lebenspläne im Kopf hatten. Viele sind ja nicht gekommen, um zu bleiben, sondern wollten sich nur zwei oder drei Jahre hier aufhalten. Wir treffen in Deutschland auf eine ganz spannende Situation: Aus Gastarbeitern sind Siedler geworden. Künftig werden wir Menschen für bestimmte Arbeitsbereiche, auch akademische Berufe, auf Dauer nach Deutschland holen. Es gibt interessante Unterschiede zwischen der Psyche eines Gastarbeiters und eines Siedlers: Der Gastarbeiter findet im Gastland alles schlechter als es in Wirklichkeit ist, umgekehrt in seinem Heimatland alles besser als es der Realität entspricht, um sich selbst die Motivation für eine Rückkehr zu schaffen. Er muss eine innere Distanz halten. Der Siedler hingegen macht sein Heimatland schlechter als es ist und findet in der neuen Heimat alles besser als es ist, um sich zum Bleiben zu motivieren.

Ist Deutschland ein Einwanderungsland?

Akgün: Deutschland ist das Einwanderungsland schlechthin in Europa. Es leben siebeneinhalb Millionen Ausländer hier, hinzu kommen seit 1945 insgesamt zwölf Millionen Flüchtlinge und Aussiedler aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten und Osteuropa. Kein Land in Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen aufgenommen wie Deutschland.

Hat das niederländische Integrationsmodell etwas Nachahmenswertes zu bieten?

Akgün: Die Niederländer haben die Integrationskurse an die Kommunen delegiert, die diese Kurse inhaltlich recht unterschiedlich ausrichten. Es gibt dort sehr schöne flankierende Maßnahmen durch neue Medien. Neben dem klassischen Frontalunterricht setzen sie beispielsweise auf CD-Rom mit unterschiedlichen Sprachniveaus und stecken viel Geld in die Erstellung von Software. Was wir außerdem lernen können, ist, dass die Niederländer zwar Sanktionen vorsehen, diese aber kaum anwenden, da sie nicht lern-motivierend sind. Auch von ihrer Flexibilität könnten wir lernen, damit die Menschen diese Kurse als Chance begreifen und nicht als Zwang.

Um ein ganz anderes Thema anzuschneiden: Die USA machen fundamental- islamistische Kreise für die schrecklichen Terror-Anschläge auf das World Trade-Center und das Pentagon verantwortlich. Können Sie vor diesem Hintergrund verstehen, dass die Menschen hierzulande bisweilen Angst vor einer starken muslimischen Präsenz haben?

Akgün: In Deutschland leben etwa drei Millionen Muslime, von denen schätzungsweise 3000 radikalen Islamisten zuzurechnen sind. Ich finde es wichtig, zwischen der Religiosität der Menschen und einem politischen oder gar extremistischen Islam zu unterscheiden. Fundamentalismus als politische Ideologie müssen wir entschieden bekämpfen. Es kann unser aller Wille nicht sein, dass der politische Islam in Deutschland Fuß fasst. Wenn Politik eine Religion zum Instrument macht, lehne ich persönlich dies als undemokratisch ab. Aber das hat nichts mit der Religiosität der Menschen zu tun, die wir respektieren müssen. Die im Grundgesetz verankerte Religionsfreiheit gehört für mich zu den Grundelementen einer demokratischen Gesellschaft. Mir gefällt das nordrheinwestfälische Projekt "Islamunterricht auf Deutsch" sehr gut, weil es sich an alle islamischen Kinder richtet, gleich welcher nationaler Herkunft und Konfession sie sind. Wenn das Schule macht, hätten wir die nächste Generation aufgeklärter und wissender erzogen. Das wäre ein guter Anfang.

(NGZ)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort