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Bettina Wietzker und Michael Williams, Diplom-Psychologen Darüber sprechen,um das Unfassbare zu verarbeiten

Von Carina Wernig und Volker Koch

Von Carina Wernig und Volker Koch

Gottesdienste, Lichterketten, Schweigemärsche bestimmten gestern das öffentliche Leben in Deutschland: Alles Versuche, die schrecklichen Geschehnisse des 11. September, die Folgen der Terror-Attentate von New York und Washington, zu verarbeiten — zu verstehen sind sie eh nicht. Betroffenheit und Trauerverarbeitung, das sind Aufgabenbereiche, mit denen sich die Psychologen in der Jugendberatungsstelle des Evangelischen Kirchenkreises Mönchengladbach (JUBS) an der Drususallee in Neuss ständig konfrontiert sehen. Die NGZ sprach gestern mit JUBS-Leiterin Bettina Wietzker und ihrem Mitarbeiter Michael Williams über die Auswirkungen der Terror-Attentate auf den Einzelnen und die Gesellschaft.

Frau Wietzker, die Reaktionen auf die Terroranschläge von New York und Washington beschäftigen uns alle. Haben Sie hier in der Jugendberatungsstelle gemerkt, dass dieses Thema in den vergangenen drei Tagen besonders im Vordergrund stand?

Wietzker: Natürlich ist das ein Thema. Zunächst einmal intern, wir haben uns am Donnerstag die Zeit genommen, die eigene Betroffenheit aufzuarbeiten. Aber es gab natürlich auch Gespräche mit Jugendlichen darüber. Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einer Zwanzigjährigen, die mir sagte: Eigentlich geht es mir ganz gut, aber ich traue mich nicht zu lachen. Die Betroffenheit und das große Bedürfnis, darüber zu sprechen, sind auf jeden Fall da, aber auch eine gewisse Ratlosigkeit. Auf der anderen Seite gibt es auch den Versuch, zu sagen: Das ist ja alles so weit weg. Aber das sind nur wenige, denn wir haben festgestellt, dass die Auswirkungen der Anschläge ganz stark in die eigene Lebensplanung hineinreichen, und das besonders bei Jugendlichen: Die USA stellen für viele junge Menschen immer noch ein Traumland dar.

Was raten Sie den Menschen, um die Erlebnisse vom 11. September am besten zu verarbeiten?

Wietzker: Das beste ist: zu sprechen, zu sprechen, zu sprechen. Das ist ähnlich wie bei der Verarbeitung eines eigenen Trauerfalls: So viel wie möglich darüber reden, auch über die eigenen Empfindungen. Je mehr ich darüber spreche, je öfter ich mich wiederhole, desto größer ist die Chance, den Ereignissen das Furchtbare zu nehmen.

Williams: Genauso wichtig ist natürlich das Zuhören. Das können wir hier als professionelle Hilfe leisten, aber das können auch Freunde und Familie. Wichtig ist: Wenn jemand über seine Empfindungen sprechen möchte, muss man ihm immer wieder zuhören. Jedes weitere Erzählen führt zu einer Einordnung des Geschehenen, das sonst so unfassbar ist. Dass so viel über dieses Thema gesprochen wird, hat auch etwas mit der Größe des Unfassbaren zu tun. Aber noch einmal: Hauptsache, es ist einer da, mit dem man reden kann; das müssen keine ausgebildeten Personen sein.

Tut sich da nicht ein gesellschaftliches Problem auf: Es gibt immer mehr Singles, immer mehr allein lebende Menschen — mit wem sollen und können die reden?

Wietzker: Bei den Jugendlichen, mit denen wir es hauptsächlich zu tun haben, stellt sich diese Frage weniger, denn sie leben in den seltensten Fällen allein. Und wenn gerade kein realer Mensch da ist, mit dem sie sprechen können, liegt das Handy immer bereit. Aber Sie haben Recht, es gibt viele Menschen, die alleine sind, Mütter mit ihren kleinen Kindern zu Hause, ältere Menschen, für die ist es sicherlich schwieriger, das Geschehene und Gesehene zu verarbeiten.

Williams: Nach unseren Erfahrungen kommt es bei Jugendlichen ausgesprochen selten vor, dass sie keinen Ansprechpartner haben.

Wietzker: Ich habe den Eindruck, dass die Schulen hier in den vergangenen Tagen ein gutes Stück Arbeit geleistet haben, um den Schülern Raum zum Trauern und Raum zu Gesprächen zu geben. Das ist zum Beispiel bei individuellen Problemen ja nicht der Fall.

Würden Sie Lehrern raten, das fortzusetzen?

Wietzker: Es wäre gut, wenn die Lehrer diesen ganzen Bereich weiterhin thematisieren würden . . . .

Williams: . . .auch unter einem anderen Gesichtspunkt: Viele Schüler sind islamischen Glaubens und jetzt bestimmt großen Vorurteilen oder sogar Anfeindungen ausgesetzt. Die Lehrer müssen das im Auge behalten und versuchen, hier integrativ zu wirken.

Wir alle stehen unter dem Schock der Geschehnisse von Dienstag. Warum nimmt uns das so mit, viel stärker als der Krieg in Tschetschenien, auf dem Balkan, in Afghanistan? Ist es das Spektakuläre, ist es die räumliche Nähe oder ist es die große Zahl von Toten, die uns so betroffen macht?

Wietzker: Wir sind nun einmal viel mehr westlich orientiert. Viele von uns waren schon in New York, viele waren auch schon im World Trade Center selbst. Wer war denn schon in Tschetschenien oder in Makedonien? Der Balkan oder Afghanistan sind uns doch viel fremder als die USA. Auch unsere Medien sind westlich ausgerichtet, und ich habe vorhin schon einmal gesagt: Die USA sind das Traumziel vieler, gerade junger Menschen. Sicher ist aber auch, dass die Anzahl der Toten einen großen Teil dieser Betroffenheit ausmacht.

Williams: Es kommt noch ein weiterer Aspekt hinzu: Das, was getroffen wurde, hat für uns einen sehr hohen Symbolwert. New York und das World Trade Center sind Symbole für westliche Demokratie und Kultur, deshalb ist die Betroffenheit so groß. Bei uns kommt auch die deutsche Geschichte hinzu, die uns vielleicht sensibler für kriegerische Gewalt macht als andere Menschen.

Wietzker: Um es mal psychologisch zu deuten: Amerika hatte für uns eine patriarchalische Funktion, und die ist jetzt getroffen worden. Die USA waren lange Zeit der Inbegriff der Stärke, und diese Stärke ist so nicht mehr da. Die Menschen in den USA, aber auch die Menschen hier mussten lernen, dass auch dieses Land verwundbar ist — das verunsichert zusätzlich.

Williams: Es ist nicht nur das Land: Wir haben gelernt, dass unsere ganze Zivilisation verwundbar ist, das erklärt diese starke Betroffenheit.

Erwarten Sie bleibende Auswirkungen, oder ist das Ganze in zwei, drei Wochen vergessen? Oder anders gefragt: Hat die Spaßgesellschaft am 11. September 2001 aufgehört zu existieren?

Williams: So weit würde ich nicht gehen. Aber ich glaube schon, dass wir die Auswirkungen lange spüren werden. Die ersten werden ganz banal sein: Es wird jetzt weltweit sehr sehr viel Geld in die Terrorismusbekämpfung gesteckt werden, und dieses Geld wird in anderen Bereichen fehlen. Ich fürchte, im Sozialbereich werden wir eine neue Sparwelle erleben. Außerdem kann ich mir vorstellen, dass mit Blick auf die Sicherheit die Persönlichkeitsrechte merklich eingeschränkt werden.

Wietzker: Dass die Spuren eines Teils der Attentäter nach Hamburg führen, wird bestimmt seine Auswirkungen haben: Ich befürchte, dass man jetzt den Anderen wegen seines Aussehens oder seiner Angewohnheiten schneller verdächtigen wird. Ich befürchte einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit, und ich befürchte, dass wir uns in Richtung eines Überwachungsstaates bewegen werden.

Erwarten Sie auch Auswirkungen in psychologischer Hinsicht?

Wietzker: Das alles hat Auswirkungen auf die nächsten Jahre, vor allem auf die Jugendlichen und ihre Zukunft. Die haben heute schon genug Sorgen und Ängste, und durch ein solches Ereignis wie das von Dienstag werden neue Ängste in Gang gesetzt.

Welche Auswirkungen kann das haben?

Williams: Allgemeine Zukunftsängste und damit einhergehend diffuse Störungen (diffus: zerstreut, ungeordnet, verschwommen, Anm. d. Red.) nehmen ohnehin zu. Je mehr diffuse Ängste die Jugendlichen haben, desto eher können bei ihnen Depressionen entstehen. Und diese Depressionen können entweder zu Lethargie oder zu Ausbrüchen führen, also sich zum Beispiel in Gewalt entladen.

Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, das Geschehene und Gesehene zu verarbeiten, damit fertig zu werden. Die einen halten "business as usual", den schnellen Übergang zur Tagesordnung nach dem Motto: "Das Leben geht weiter" für die richtige, andere halten es für falsch, dass am Wochenende schon wieder Schützenfest gefeiert oder Fußball gespielt wird. Wie beurteilen Sie das aus Sicht der Psychologen?

Wietzker: Es gibt da kein Rezept, keine eindeutige Antwort. Ich finde, man soll den Menschen Raum geben zu trauern, so viel und so lange sie ihn brauchen, und erst dann zur Tagesordnung übergehen. Wir kennen das ja auch aus der Trauerarbeit, auch da ist es höchst unterschiedlich, wie die Menschen das verarbeiten. Der eine trauert kurz, aber sehr intensiv, der andere hat über einen viel längeren Zeitraum damit zu tun, so ähnlich ist das auch jetzt. Was ich persönlich nicht gut fand: Dass am Dienstagabend, unmittelbar nach den Anschlägen, Fußballspiele ausgetragen oder Schützenfeste gefeiert wurden.

Williams: Um mit den schrecklichen Ereignissen fertig zu werden, sind die Rituale der Trauerverarbeitung sehr hilfreich: Gottesdienste, Schweigemärsche, Lichterketten, das Niederlegen von Blumen, alles kann helfen, das Geschehene zu verarbeiten. Wovor man sich auf jeden Fall hüten soll, sind die sogenannten Vermeidensreaktionen: kein Hochhaus mehr betreten, nicht mehr mit dem Flugzeug fliegen, das sollte man auf jeden Fall vermeiden.

Wietzker: Das ist wie bei einem Autounfall: Auch da sollte man sich möglichst direkt am nächsten Tag hinters Steuer setzen, sonst kann das Ganze zum Trauma werden.

Williams: Was zurzeit hinzukommt, sind natürlich auch die Ängste vor dem, was noch kommt: Wie reagieren die USA, wird es massive Vergeltungsschläge geben. Das beschäftigt die Menschen ebenso so sehr wie das, was geschehen ist.

Wietzker: Wir können nur hoffen, dass die USA besonnen reagieren werden, dass sich unsere Zivilisation nicht genauso barbarisch aufführt wie die der Terroristen. Und wir können nur hoffen, dass durch das alles viele Gespräche in Gang kommen, über die Ursachen des Terrorismus, über die ungleiche Verteilung der Güter auf der Welt. Wenn die Menschen darüber nachdenklich geworden sind, dann kann man unter all dem Schrecken und dem Leid auch noch etwas Positives entdecken.

(NGZ)
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