Kempen St. Martin vor der qualmenden Synagoge

Kempen · Die Anordnungen zu den Ausschreitungen des Novemberpogroms vor 80 Jahren erfolgten ganz gezielt „von oben“. Aber sie liefen parallel über zwei getrennte Befehlsketten. Der eine Strang war der der NSDAP. Er setzte die Schlägertruppe der Partei, die SA, in Marsch. Der andere Strang war der der Gestapo. Er mobilisierte die örtlichen Polizeibehörden. Wie beide Stränge parallel funktionierten, wie ihre Anweisungen erst vor Ort zusammenliefen und dann umgesetzt wurden, zeigt das Beispiel der damaligen Kreisstadt Kempen. Hier zieht am Abend der St.-Martinszug an der noch qualmenden Brandruine der Synagoge vorbei.

Auf Befehl des zuständigen SA-Befehlshabers Hauptsturmführer Hans Gass setzen Kempener SA-Männer und ein SS-Rottenführer am 10. November die Synagoge an der Umstraße in Brand. Vorher haben sie das jüdische Gotteshaus geplündert. Besonders wertvolle Kultgegenstände liefern sie an die Gestapo ab. Auch der Davidstern, der als Fenster in die Wand der Synagoge über dem Hauptportal eingelassen war, bis dieses mit dem brennenden Giebel auf den Vorplatz stürzte, findet einen Liebhaber. Das schmiedeeiserne Sakralwerk, 112 Zentimeter im Durchmesser, wurde von einem Unbekannten in der Wand einer Kempener Lagerhalle an der Hülser Straße hinter Holzbrettern versteckt und kam 2006 bei deren Abbruch wieder zum Vorschein.

 An der damaligen Umstraße 12 in Kempen lag das Lädchen der jüdischen Händlerin Linchen Winter (im Bild links). Noch am Abend, als der St.-Martinszug vorbeikam, lagen ihre zerschlagenen Waren auf der Straße.

An der damaligen Umstraße 12 in Kempen lag das Lädchen der jüdischen Händlerin Linchen Winter (im Bild links). Noch am Abend, als der St.-Martinszug vorbeikam, lagen ihre zerschlagenen Waren auf der Straße.

Foto: Hella Furtwängler

Die Durchsuchung der jüdischen Wohnungen und Geschäfte durch die Kempener Polizei, verstärkt durch die SA, ist dem fanatischen SA-Befehlshaber Gass nicht genug. Er befiehlt eine zweite Durchsuchungsaktion durch die SA. Gass hält sich dabei im Hintergrund, und auch die Polizei hält sich zurück. Nur ein Beamter, der Hauptwachtmeister Ludwig Oberdieck, schließt sich, mit einer Axt bewaffnet, den plündernden Nazis an. Eine größere Anzahl Zuschauer, vor allem Kinder, begleitet die Täter auf ihrem Weg durch die Stadt.

Auf einem Fass vor der brennenden Synagoge steht der SA-Sturmführer Ernst Sipmann. Aus dem geschändeten Gotteshaus hat er den Thora-Weiser mitgenommen; das ist ein etwa 60 Zentimeter langer, mit Sternen verzierter Stab, mit einer stilisierten Hand an seiner Spitze, mit dem beim jüdischen Gottesdienst der Vorlesende in der Schriftrolle die Worte verfolgt, die er aus Ehrfurcht nicht berühren will. Sipmann fuchtelt mit diesem Stab in der Luft herum und kündigt an: „Auf wen der zeigt, der wird getötet werden!“

Wie er das meint, demonstriert er anschließend, als er sich mit seinem Anhang aus SA-Leuten auf den Weg durch die Stadt macht, um die jüdischen Wohnungen und Geschäfte heimzusuchen: Mit dem geraubten Thora-Weiser zeigt er auf die Eingänge der Wohnungen, in die man eindringen will, und schlägt mit ihm die Fensterscheiben kaputt.

An der Umstraße 12 zerbricht Sipmann von innen die Schaufensterscheiben des „Tante-Emma-Ladens“ von Karoline, genannt Linchen, Winter. Dann demoliert er die Inneneinrichtung des Geschäfts der 70 Jahre alten Frau. Damals gibt es in den kleinen Läden viele Waren noch lose, also unverpackt zu kaufen. Sie wurden meist in Schubladen gelagert. Die Nazis reißen alle Schubladen aus Linchen Winters Schränken. Ihren Inhalt schütten sie auf dem Boden des Geschäftchens auf einen Haufen aus.

Linchen Winter war nach der Erinnerung von Zeitzeugen eine „Seele von Mensch“, die mit den Kindern, die bei ihr einkauften, eine unglaubliche Geduld hatte. Bei ihr war es üblich, dass ihre Kunden bei ihr anschreiben ließen. Schon vor der Zerstörung ihres Ladens war ihr am Morgen des 10. November übel mitgespielt worden. Eine Zeitzeugin, damals elf Jahre alt, beobachtete durch Linchens Schaufenster, wie zwei Hitlerjungen sie an den Armen anfassten und auf den Boden in die mit Gemüse voll gepackten Kisten stießen, die im Laden links vor dem Regal standen.

Der Kempener Helmut Ringforth, damals ein zehnjähriger Junge, hat sich später erinnert, wie es im Laden aussah, als die Nazis ihn verlassen hatten: „Linchen Winter stand, an die Wand gedrückt, wie gelähmt da, und die Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie betrachtete ihre Waren, die verstreut auf dem Boden lagen, und sagte immer wieder nur: ‚Ick hebb doch ni-emes jet jedo-en – ick hebb doch ni-emes jet jedo-en.’“

Zweites Beispiel: Das Haus der jüdischen Familien Goldschmidt und Bruch in Kempen, Vorster Straße 2, das heutige Café Amberg. In der kleinen Wohnung, die Rudolf Bruch im ersten Stock bewohnt, haben sich fünf Menschen angespannt um das Radio geschart: Rudolf und seine Frau Selma Bruch, seine Schwiegereltern Albert und Johanna Goldschmidt und Selmas Bruder Leo Goldschmidt wollen die neuesten Nachrichten hören. Da schlagen der Hauptwachtmeister Ludwig Oberdieck und seine SA-Männer das Wohnzimmerfenster im Erdgeschoss ein und treten die schwere Haustür aus ihren Angeln. Wilde Drohungen brüllend, stürmen sie nach oben ins Wohnzimmer, packen die drei jüdischen Männer, schieben sie in eine Ecke und wenden sich den Schlafzimmern zu.

Aber hier tritt ihnen Selma Bruch entgegen: „Bitte! Da schlafen unsere Kinder. Die sind doch noch klein, bitte, bitte, tut ihnen nichts.“ Einer der Nazis schreit nur: „Was interessieren uns deine Judenbälger? Bring die bloß raus!“ Aber vor der Tür des Kinderzimmers bleiben sie doch stehen. Dann entdecken sie im Wohnzimmer ein Klavier, schlagen es mit ihren Äxten in Stücke, reißen das Fenster auf und werfen die Trümmer des schweren Instruments auf die Straße. Dann nimmt Selma Bruch ihre beiden kleinen Kinder, die vierjährige Ilse und den sechsjährigen Herbert, und läuft mit ihnen auf die Straße, begleitet von der Großmutter, während sie noch hinter sich das Splittern von Glas und das Krachen der auf den Boden geworfenen Gegenstände hört.

Am 5. November 1943 wird Selma Bruch, nachdem ihr Mann Rudolf im Ghetto Riga ermordet worden ist, ihrer Tochter Ilse in Auschwitz freiwillig in die Gaskammer folgen, damit das Kind im Sterben nicht allein ist. Von ihrer Familie hat nur der Sohn Herbert überlebt. Er wohnt heute in den USA, hat aber nie mehr Kontakt zu Kempen aufgenommen. Der Kempener Stadtrat hat nach dem Krieg 67 Jahre gebraucht, bis auf einen Antrag der Grünen-Fraktion hin im Neubaugebiet an der Kreuzkapelle eine Straße nach der jüdischen Mutter benannt wurde, die mit ihrer Furchtlosigkeit den Rassenwahnsinn der Nazis beschämte.

Als wäre nichts geschehen, startet am Abend des Kempener Pogroms wie jedes Jahr am 10. November der St. Martinszug von der Mülhauser Straße auf seinen Weg durch die Stadt. Wie immer ziehen der heilige Mann – in diesem Falle Karl Pielen, der 1933 NS-Ortsbauernführer war, für die NSDAP im Stadtrat sitzt und jetzt die Viehweiden besitzt, die bis dahin von dem jüdischen Viehhändler Albert Goldschmidt bewirtschaftet wurden – und seine Herolde vorneweg. Das Wetter ist schön, und die Straßen der Stadt sind mit bunten Lichtern und Lampions reichlich geschmückt. Wie immer werden die fröhlichen Lieder gesungen: „Oh, wat en Freud!“

Von der Rabenstraße schwenkt der Zug in die Umstraße ein. Hier steigt noch Rauch aus der Ruine der abgebrannten Synagoge. Vor dem Laden der jüdischen Gemischtwarenhändlerin Linchen Winter sehen die singenden Kinder die auf die Straße geworfenen Einrichtungsgegenstände und Lebensmittel liegen: Mehl, Zucker, Einmachgläser. Die Kinder recken die Hälse; aber vor der Synagoge stehen noch Kempener Feuerwehrleute, die Brandwache halten. Sie drängen sie: „Singen! Weiter gehen!“ „Wir zogen singend daran vorbei“, hat sich der Zeitzeuge Erich Wüllems erinnert. „Immer, wenn der St. Martins-Zug durch Kempen zieht, kommen die Bilder aus der Vergangenheit zurück.“

Als die bunten Fackeln ihren Weg über den Ring nehmen, sitzen im heutigen Café Amberg der sechsjährige Herbert und die vierjährige Ilse Bruch ganz verängstigt hinterm verdunkelten Fenster. Wahrscheinlich fällt es ihnen schwer zu begreifen, wie die anderen Kempener Kinder ihre fröhlichen St. Martinslieder singen können, wo doch dieser Tag so vielen Menschen so viel Schlimmes gebracht hat.

Im Protokoll des St.-Martin-Vereins ist von den beschämenden Ereignissen, die dieser Tag gebracht hat, freilich nicht die Rede, im Gegenteil: „Es war eine reine Freude für Junge und Alte“, heißt es da in der Rückschau. Auf der Tüte, die jedes Kind bekommt, prangt ein Vers des Heimatdichters Wilhelm Grobben, der bis zum 12. Oktober 1938 NS-Ortsgruppenleiter in Kempen war: „ …on weils dou brav wors, krigs dou nou/dees Bloas mit lecker Denge.“ Jedes Kempener Kind bekommt eine solche Tüte – nur die jüdischen nicht.

Nach Wilhelm Grobben, dem prominenten Dichter und Nationalsozialisten, hat der Kempener Stadtrat nach seinem Tod eine Straße benannt.

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