Hückeswagens Partnerstad tEtaples Die Gefahr aus dem maroden Reaktor

Etaples · Nur 70 Kilometer von Hückeswagens Partnerschaft, in der englischen Grafschaft Kent, liegt ein Atomkraftwerk, das alles andere als sicher ist. So haben die französischen Freunde neben Corona und dem Brexit eine weitere große Sorge.

Der Blick in das Innere eines Atomkraftwerks.

Der Blick in das Innere eines Atomkraftwerks.

Foto: ddp / Nigel Treblin

Liegt es an der Corona-Pandemie mit den abermaligen Einschränkungen des öffentlichen Lebens, die den Franzosen das Leben schwer macht? Oder ist es ein möglicher No-Deal in den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien, der sie bedrückt? Ein harter Brexit, der schon bald, etwa für die heimische Fischereiindustrie, gravierende Folgen hätte. Zu den Sorgen in diesem Herbst kommen für die Etapler aufgrund von Nachrichten von der anderen Seite des Ärmelkanals neue hinzu.

Anfang Oktober veröffentlichte die größte Regionalzeitung Nordfrankreichs, die in Lille erscheinende „La Voix du Nord“, alarmierende Berichte: Darin ist von einem denkbaren Unfall im Kernkraftwerk Dungeness in der Grafschaft Kent die Rede. Von hier aus sind es nur 50 Kilometer Luftlinie bis nach Boulogne-sur-Mer, und kaum 70 bis Etaples. Die Reaktoren von Dungeness B mussten 2018 abgeschaltet werden, weil Aufsichtsbehörden dort Gefahrenquellen entdeckt hatten: Risse, durch Korrosion verursacht, in Leitungen der Kühlanlage und in Sicherheitsventilen.

Einen ersten Zwischenfall hatte man hier bereits 2009 gemeldet, allerdings ohne, dass es dabei zum Austritt radioaktiver Stoffe gekommen war. Der Reaktorbetreiber, die Électricité de France (EDF), geht davon aus, dass im Dezember die Reparaturarbeiten beendet sein werden. Ab Januar will man die zwei 37 Jahre alten Reaktoren wieder hochgefahren, ihr weiterer Betrieb ist bis 2028 vorgesehen. Aber sind diese Druckwasserreaktoren trotz aller Bekundungen der EDF noch sicher? Die beiden anderen Reaktoren von Dungeness A wurden bereits 2009 abgeschaltet und werden inzwischen rückgebaut. Die Situation für die Küstenregionen Nordfrankreichs ist umso bedrohlicher, als Boulogne unweit des ältesten französischen Kernkraftwerks, der Anlage von Gravelines, liegt. Gebaut an der Küste zwischen Calais und Dünkirchen, liefert es schon seit 1980 Atomstrom. Auch dieses Kernkraftwerk ist im Besitz der EDF. In der Hafenstadt überschnitten sich die Radien, sollten sich radioaktive Stoffe in der Atmosphäre rund um Gravelines oder Dungeness verbreiten.

Ein solcher Atomunfall würde auch Etaples direkt gefährden, dazu genügten nur entsprechend ungünstige Windverhältnisse. Die französischen Behörden hatten aufgrund dieser Bedrohungslage vor einem Jahr den Gefährdungsumkreis von Gravelines von zehn auf 20 Kilometer erweitert: Für alle hier lebenden Menschen sind Jodtabletten bereitgestellt worden, die man im Fall erhöhter Radioaktivität verteilt – zum Schutz der Schilddrüse.

Zwar sind vom europäischen Festland aus bei guter Sicht die Kreidefelsen von Dover zu erkennen, weniger aber das auf einer flachen Landzunge direkt am Meer errichtete Dungeness B. Seine geografische Lage ist die eigentliche Schwachstelle der Reaktoren: Nur eine eineinhalb Meter hohe Mauer wurde um das Kraftwerksgelände herum gebaut, die vor eindringendem Hochwasser schützen soll. Kritiker monieren jedoch, dass die Klimaerwärmung und der damit steigende Meeresspiegel hier ein Sicherheitsrisiko böten.

Zudem berge der zu Erosionen neigende Kieseluntergrund des Geländes ebenfalls die Möglichkeit, dass die Anlage destabilisiert werde. Rückblickend auf die Ursachen der Havarie von Fukushima 2011 sei bei den Kernkraftanlagen beiderseits des Kanals auch eine Beschädigung durch seismische Erschütterungen nicht ausgeschlossen, warnen Kritiker.

Immerhin könne ein Tsunami, der seinen Ausgang von den Kanarischen Inseln nähme, katastrophale Auswirkungen auf die Kanalregionen haben. Als Belege werden Sturmfluten angeführt, die zwar vor Jahrhunderten, damals aber die Küsten beiderseits der Meeresenge weithin verwüstet hätten – man habe acht solcher Ereignisse gezählt.

Die steigende Zahl der Covid-19-Erkrankungen, ein drohender No-Deal-Brexit, die Angst vor einem Reaktorunfall hüben wie drüben: Es gibt viele Gründe, den Menschen an der Canche bessere Zeiten zu wünschen.

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