NRW-Pflegekammer-Präsidentin Sandra Postel „Kinder werden auf den Klinikfluren abgestellt“

Interview | Düsseldorf · Die Kritik an der neuen Pflegekammer NRW mit Pflichtmitgliedschaft und -beitrag reißt nicht ab. Die frisch gewählte Präsidentin, Sandra Postel, verteidigt die Kammer gegen den Vorwurf, ein zahnloser Tiger zu sein, und erklärt, wieso die Pflegefachkräfte keine steigenden Beiträge befürchten müssen.

ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Inga Dreyer vom 18. Januar 2021: Wer in der Pflege arbeiten will, sollte empathisch sowie körperlich und psychisch belastbar sein - trotz schwieriger Arbeitsbedingungen lieben viele Pflegekräfte ihren Beruf. Foto: Tom Weller/dpa/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++

ARCHIV - Zum Themendienst-Bericht von Inga Dreyer vom 18. Januar 2021: Wer in der Pflege arbeiten will, sollte empathisch sowie körperlich und psychisch belastbar sein - trotz schwieriger Arbeitsbedingungen lieben viele Pflegekräfte ihren Beruf. Foto: Tom Weller/dpa/dpa-tmn - Honorarfrei nur für Bezieher des dpa-Themendienstes +++ dpa-Themendienst +++

Foto: dpa/Sina Schuldt

Frau Postel, wir haben in der Pandemie für die Pflege geklatscht. Passiert ist jedoch für die Beschäftigten wenig. Wo stehen wir gerade?

Postel Es gibt nicht nur die Pflege, sondern ein sehr weit differenziertes Spektrum – also vom pädiatrischen Bereich, den Ambulanzen über die Klinken bis hin zur stationären Altenpflege. Was all diese Bereiche eint? Die Pflege saß bei allen sie betreffenden wichtigen Entscheidungen nicht mit am Tisch. Stattdessen wurde über ihren Kopf hinweg entschieden - und zwar mindestens in den vergangenen 30 Jahren. Insofern wurden viele Sparmaßnahmen auf unserem Rücken durchgeführt. Das ändern wir jetzt mit der Pflegekammer in NRW.

Der Pflegeberuf wird regelmäßig beim Thema Fachkräftemangel als erstes genannt. Ändern tut sich jedoch augenscheinlich nichts.

Postel Es gibt einfach kein Konzept, wie man die pflegerische Versorgung in NRW oder auch in Deutschland aufrechterhalten soll. Im Krankenhauswesen gibt es heute weniger Pflegefachpersonen als 1994 – bei deutlich steigendem Bedarf. Und weil wir es in der Altenpflege nicht schaffen, die Versorgung hochbetagter Menschen zu gewährleisten, geht es auf die Knochen der pflegenden Angehörigen und des Personals. Vergleichbares gilt für den Bereich der Pädiatrie: Eltern erleben es heute, dass ihre Kinder auf Tragen auf den Fluren der Notaufnahmen abgestellt werden, weil sie auf den Spezialstationen wegen mangelnden Personals nicht aufgenommen werden können. Und wenn wir uns mal ehrlich machen: Das ist wegen des demografischen Wandels gerade erst der Anfang.

Und da soll jetzt eine Pflegekammer mit Pflichtmitgliedschaft und -beiträgen helfen?

Postel Ja. Der Pflegeberuf ist derzeit nicht klar definiert. Weil aber im deutschen Gesundheitswesen nur examinierte Pflegefachpersonen ordentlich refinanziert sind, entlassen die Krankenhäuser gerade aus wirtschaftlichem Druck Pflegehilfskräfte und setzen für Service- und Putzleistungen hoch qualifizierte Pflegefachpersonen ein, die dann für ihre eigentlichen Aufgaben fehlen. Wir müssen den Pflegeberuf sauber definieren.

Und wie soll das gelingen?

Postel Wir brauchen wie in Rheinland-Pfalz eine Berufsordnung, die von den Pflegenden entwickelt wird und nicht über deren Köpfe hinweg. Es geht darum, die Rechten und Pflichten von Pflegefachpersonen zu beschreiben. Ein lebendes Dokument, das auch veränderten Bedingungen angepasst werden kann.

Welche Pflichten gäbe es?

Postel Als Pflegefachperson muss ich mich beispielsweise im Privaten an Regeln halten, die bei Zuwiderhandlung als Berufspflichtverletzung betrachtet werden.

Das klingt recht theoretisch. Machen Sie das mal konkret.

Postel Es gab in einem benachbarten Bundesland einen Fall, bei dem eine Pflegeschülerin zu einem Kollegen mit nach Hause gegangen ist und dort von ihm unter K.-o.-Tropfen gesetzt und vergewaltigt wurde. Eine solche Handlung im privaten Kontext muss für den Täter neben strafrechtlichen Auswirkungen auch Folgen im beruflichen Kontext haben. Gleiches gilt, wenn Pflegefachpersonen in den sozialen Medien nationalsozialistische Äußerungen von sich geben. Oder wenn ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin erlebt, dass eine Kollegin oder ein Kollege bei der Medikamentengabe nicht fachgerecht  gearbeitet hat. Dann muss sie oder er das auch ansprechen, weil klar ist, dass in dem Beruf auch bei Fehlern von KollegInnen nicht weggeschaut werden kann. Bei all diesen Fällen handelt es sich um Berufsrecht unter Hoheit der Kammer.

Kontrollfunktionen sind das eine. Aber wo liegen direkte Vorteile für die Beschäftigten?

Postel Wir können neben den Tätigkeiten dann auch beispielsweise festschreiben, dass in einem abhängigen Beschäftigtenverhältnis die Vorgesetzten aus der Pflege kommen müssen. Betriebswirtschaftliche OP-ManagerInnen, die nicht fachlich, sondern nur anhand von Effizienzsteigerungen argumentieren, sind dann passé. Gleiches gilt für fachfremde PflegedirektorInnen. Zudem kann das eine Personaluntergrenze an den OP-Tischen bedeuten. Wir haben – anders als die Gewerkschaft weismachen will – starke Durchsetzungsmöglichkeiten.

Die Kritik an der Pflegekammer ist trotzdem laut und vernehmbar. Haben Sie dafür Verständnis?

Postel Uns war immer klar, dass die Errichtung einer behördlichen Struktur mit Pflichtmitgliedschaft und Beitrag für Kritik sorgen würde. Aber im Bereich der Heilberufe ist die Pflege der einzige Berufsstand ohne Kammervertretung, und wir sind einfach nicht mehr bereit, dass über unsere Köpfe hinweg entschieden wird.

In anderen Bundesländern sind Pflegekammern allerdings gescheitert.

Postel Das lag in Niedersachen und Schleswig-Holstein an der mangelnden Unterstützung durch die Politik. In NRW haben wir im Gegensatz dazu eine auskömmliche Anschubfinanzierung bis 2027 durchsetzen können.

Aber dann drohen Zwangsbeiträge.

Postel Der Errichtungsausschuss hatte den Vorschlag erarbeitet, von den Mitgliedern pauschal knapp fünf Euro pro Monat als Beitrag zu veranschlagen. Wir haben das für den konservativ gerechneten Fall von 200.000 Mitgliedern durchgespielt und würden auch bei Wegfall des Anschubs keine nennenswerten Beitragssteigerungen erwarten.

Von der Gewerkschaft Verdi bekommen Sie trotzdem massiven Gegenwind.

Postel Wir werden Verdi keine Mitglieder wegnehmen. Im Gegenteil. Wir sorgen für eine größere Sichtbarkeit unseres Berufsstandes. Davon kann die Gewerkschaft sogar profitieren. Im Übrigen gibt es bei der Wahrnehmung der Kammer einen Unterschied zwischen den FunktionärInnen und den GewerkschafterInnen, die sich aktiv in unsere Gremien engagieren. Ich bin auch mit den Stimmen von Verdi-VertreterInnen gewählt geworden. Damit hatte ich persönlich nicht gerechnet, das hat mich überrascht und gefreut. Das gibt mir die Zuversicht, dass wir trotz aller Differenzen konstruktiv zusammenarbeiten werden und die Kammer allen Drohgebärden der Gewerkschaft zum Trotz dauerhaft Bestand haben wird. Denn am Ende wollen wir alle das gleiche: bessere Bedingungen für die Pflege.

 Pflegekammer NRW - Sandra Postel *** NUR FUeR REDAKTIONELLE ZWECKE *** EDITORIAL USE ONLY ***Die Pflegekammer NRW hat im Dezember 2022 ihre Arbeit aufgenommen. Sandra Postel, Mitglied des geschaeftsfuehrenden Vorstands, steht der NRZ im Interview Rede und Antwort zu aktuellen Themen in der Pflege, wie dem Fachkraeftemangel, Gewalt gegen Pflegepersonal und Kritik an der Kammergruendung. Deutschland NRW Essen Copyright: FabianxStrauch *** Pflegekammer NRW Sandra Postel FOR EDITORIAL PURPOSES ONLY EDITORIAL USE ONLY p The nursing chamber NRW started its work in December 2022 Sandra Postel, member of the executive board, answers questions to the NRZ in an interview on current topics in nursing, such as the shortage of skilled workers, violen Copyright: FabianxStrauch doc7opqp0us9jb1i3grm9iv ,EDITORIAL USE ONLY

Pflegekammer NRW - Sandra Postel *** NUR FUeR REDAKTIONELLE ZWECKE *** EDITORIAL USE ONLY ***Die Pflegekammer NRW hat im Dezember 2022 ihre Arbeit aufgenommen. Sandra Postel, Mitglied des geschaeftsfuehrenden Vorstands, steht der NRZ im Interview Rede und Antwort zu aktuellen Themen in der Pflege, wie dem Fachkraeftemangel, Gewalt gegen Pflegepersonal und Kritik an der Kammergruendung. Deutschland NRW Essen Copyright: FabianxStrauch *** Pflegekammer NRW Sandra Postel FOR EDITORIAL PURPOSES ONLY EDITORIAL USE ONLY p The nursing chamber NRW started its work in December 2022 Sandra Postel, member of the executive board, answers questions to the NRZ in an interview on current topics in nursing, such as the shortage of skilled workers, violen Copyright: FabianxStrauch doc7opqp0us9jb1i3grm9iv ,EDITORIAL USE ONLY

Foto: IMAGO/Funke Foto Services/via imago-images.de

Noch haben sich nicht alle Pflegefachkräfte bei Ihnen zurückgemeldet. Wie wollen Sie die Registrierung aller schaffen?

Postel Die Meldungen über die Arbeitgebenden – im Übrigen alles mit der Landesdatenschutzbeauftragten abgestimmt – laufen sehr gut. Viele der schätzungsweise 240.000 Pflegefachpersonen haben die Schreiben bekommen, nicht alle haben sich bei uns zurückgemeldet. Ich habe dafür durchaus Verständnis. Wer einen derart aufreibenden Job hat, dazu noch die Familie managen muss, für den hat womöglich trotz aller positiven Effekte ein komplizierter, weil nach Verwaltungsgrundlagen formulierter, Kammerbrief nicht die Prio eins. Aber davon abzuleiten, dass dies alles Kammergegner seien, ist überzogen. Wir werden nicht nachlassen, die Pflegefachpersonen anzusprechen.

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