Grünen-Chefin Mona Neubaur „Das zeugt von einem desaströsen Amtsverständnis“

Interview | Düsseldorf · Die Spitzenkandidatin und Landesvorsitzende der Grünen in NRW spricht im Interview über Mallorca-Gate, die Folgen des Kriegs in der Ukraine und den Freiheitsbegriff der FDP.

Die Direktkandidatin der Grünen in NRW, Mona Neubaur.

Die Direktkandidatin der Grünen in NRW, Mona Neubaur.

Foto: Hans-Juergen Bauer (hjba)

Ursula Heinen-Esser ist als Ministerin zurückgetreten. Hat sich die Sache rund um „Mallorca-Gate“ damit für Sie erledigt, oder muss es weitere, womöglich auch personelle Konsequenzen geben?

Neubaur Wenn gefühlt das halbe Kabinett unter mallorquinischer Sonne anstößt, während in der Heimat weite Teile des Landes absaufen, zeugt das von einem desaströsen Amtsverständnis. Mich macht das ehrlich gesagt fassungslos. Auch die Art und Weise, wie das jetzt alles nach und nach öffentlich wurde, ist absolut beschämend. Offensichtlich war man sich bewusst, wie katastrophal der Eindruck ist, dass man ihn bis zum Schluss vertuschen wollte. Der Rücktritt von Frau Heinen-Esser war so unvermeidlich wie überfällig. Mit ihrem Abgang ist dieser skandalöse Vorgang aber nicht abgeschlossen. Insbesondere das Handeln von Heimatministerin Scharrenbach muss jetzt schonungslos aufgearbeitet werden. Auch hier erwarte ich Konsequenzen.

Wie agiert aus Ihrer Sicht der Ministerpräsident kommunikativ in dieser Situation?

Neubaur Hendrik Wüst muss jetzt alle Karten auf den Tisch legen und klar sagen, wann er von diesem Kabinettsausflug erfahren hat. Sein Zaudern und Wegducken ist angesichts der Tragweite nicht nachvollziehbar. Bei den Menschen, die während der Flutkatastrophe im schlimmsten Falle Angehörige oder Freunde in den Wassermassen verloren haben, muss das alles doch wie blanker Hohn wirken.

Die Städte schlagen Alarm wegen mangelnder Unterstützung bei den Kriegsflüchtlingen. Was tun?

Neubaur Vorneweg: NRW zeigt sich einmal mehr von seiner menschlichen Seite – vor allem die Ehrenamtler und die Beschäftigten in den Kommunen gehen da momentan beeindruckend voran. Es braucht aber akut mehr Unterstützung des Landes bei der Unterbringung, bei der Schaffung von Kita- und Schulplätzen. Die Landesregierung, aber auch das Bundesinnenministerium haben den Prozess leider immer noch nicht ausreichend koordiniert. Da ist noch viel Luft nach oben.

Haben wir aus 2015 nichts gelernt?

Neubaur Das Prinzip der Vorsorge ist seit dem offenbar nicht zum Leitmotiv der Politik hier im Land geworden. Das ist nicht gut, weil viele Strukturen abgeschafft, andere massiv zurückgebaut wurden. Nur einige wenige Kommunen haben im Bereich der Gesundheitsversorgung eine Notfallreserve für Geflüchtete vorgehalten. Dass das nicht flächendeckend auf einem gewissen Niveau stattfindet, rächt sich nun.

Das ist allerdings auch eine Frage der Finanzierung.

Neubaur Humanität kann doch keine Frage des Geldes sein. Deshalb muss das Land endlich einen Altschuldenfonds auflegen und gemeinsam mit dem Bund die Kosten für die Flüchtlingsunterbringung zügig schultern. Die Städte gehen jetzt in Vorleistung, das muss perspektivisch wieder ausgeglichen werden.

Es gibt aber doch die Zusagen der Landesregierung, dass die Städte nicht allein gelassen werden.

Neubaur Aktuell erlebe ich einen Ministerpräsidenten, der eben keine konkreten Maßnahmen vorschlägt, sondern nur wolkige Versprechen abgibt. Es wäre wichtig, dass er sich mit den kommunalen Spitzenverbänden und Vertretern der Zivilgesellschaft über die Nöte vor Ort austauscht. Er könnte vom Reden ins Handeln kommen.

Wüst hat einen Expertenrat berufen. Das reicht Ihnen aber offenbar nicht.

Neubaur Wir brauchen Lösungen bei der Diversifizierung von Rohstoffen und für die Versorgungssicherheit von Industrie und Mittelstand, absolut keine Frage. Aber es geht auch um die konkreten Bedürfnisse der hier ankommenden Menschen. Da passiert einfach zu wenig.

Wie groß ist dafür die Halbwertszeit für die Willkommenskultur, wenn erst einmal klar wird, dass es an Kita- und Schulplätzen sowie bezahlbarem Wohnraum mangelt?

Neubaur Es macht mich erstmal stolz zu sehen, wie quer durch die Gesellschaft Unterstützung geleistet wird, für Menschen, die ihre Heimat, Angehörige und ein sicheres Leben verloren haben. Wir müssen jetzt bei den anstehenden Herausforderungen priorisieren: Die Schaffung von Kita- und Schulplätzen muss von der Politik aktiv gemanagt werden. Die Menschen sollen nicht über Jahre in Notunterkünften ausharren, deshalb muss im Wohnungsbereich dringend mehr geschehen. Und letztlich sollte das Land ehrlich zu seinen Bürgern sein und die Situation als das bezeichnen, was es ist: eine spürbare Krise, bei der es angezeigt ist, den Krisenstab zu aktivieren.

Es gibt doch einen Krisenstab im Integrationsministerium.

Neubaur Der ist nicht ausreichend, weil verkannt wird, wie gewaltig die Querschnittsaufgabe ist, vor der wir hier stehen. Wir benötigen ein echtes Steuerungsinstrument mit klaren Durchgriffsrechten. Die dramatischen Bilder der Kriegsverbrechen in Butscha und an anderen Orten könnte die Fluchtbewegungen noch mal verstärken. Darauf sollte das Land vorbereitet sein.

Der Krieg befeuert einerseits die Energiewende, macht es aber notwendig, dass man auch mit Staaten wie Katar über Gaslieferungen sprechen muss. Wie doll schmerzt Sie das als Grünen-Landesvorsitzende?

Neubaur Natürlich kommt da keine Feierstimmung auf. Wir merken als Gesellschaft gerade schmerzhaft, dass wir uns in den vergangenen Jahrzehnten in eine energiepolitische Abhängigkeit begeben haben, die uns jetzt erpressbar macht. Es sollte mittlerweile dem letzten klar sein, dass uns nur der massive Ausbau der Erneuerbaren aus den Fängen von Despoten wie Putin befreit. Als Partei übernehmen wir die Verantwortung und gehen diesen nicht gerade einfachen Weg. Das alles darf aber nur übergangsweise sein, wir müssen zu einer 100-Prozent-Versorgung aus erneuerbaren Energien kommen. Dafür sollten wir endlich aufhören, die Energiewende politisch zu erleiden, sondern sie als Chance begreifen und aktiv gestalten.

Indem man die 1000-Meter-Abstands-Regel für Windräder kippt?

Neubaur Pauschale Mindestabstände helfen nicht, um die Akzeptanz zu steigern – im Gegenteil. Wir sollten die Bürger und Kommunen viel stärker und früher beteiligen, im Prozess selbst aber auch finanziell. Wenn man von den sich drehenden Rotoren profitiert, weil dadurch Investitionen in Kitas und Freibäder möglich werden oder sich das Sparbuch füllt, dann baut man dadurch Vorbehalte ab.

Die Verbraucher merken die Teuerung beim Tanken. Hendrik Wüst hat schon gesagt, dass das Paket des Bundes nicht ausreiche, und fordert, die Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer anzuheben.

Neubaur Entlastungen für die breite Gesellschaft sind nötig. Deshalb ist es richtig, dass die Ampel bereits zwei Pakete geschnürt hat, die das erreichen sollen. Wir können das aber nicht einseitig für die machen, die einen hohen Spritbedarf haben. Der alleinerziehenden Mutter mit horrender Gasnachzahlung und der Rentnerin, die unter steigenden Lebensmittelkosten leidet, bringt das nichts. Das Energiegeld wäre hier das richtige Instrument, deshalb sollte es jetzt schnell umgesetzt werden.

Bei der Ampel scheint es mit der Umsetzung zu dauern.

Neubaur Die Ampel muss die Maßnahmen viel zielgenauer formulieren. Und dann muss sie natürlich Geschwindigkeit bei der Umsetzung aufnehmen. NRW kann allerdings auch einen Beitrag leisten, indem das Land etwa die Angebote der Verbraucherzentralen in Sachen Energieeffizienzberatung ausbaut. Dafür brauchen sie jetzt aber schnell die Zusage einer dauerhaften Finanzierung.

Nach den jüngsten Umfragen wären die Grünen in allen Konstellationen mit Ausnahme einer großen Koalition bei der nächsten Landesregierung dabei. Malen Sie sich schon aus, welche Bilder Sie an die Wände Ihres Ministerinnen-Büro hängen werden?

Neubaur Ganz ehrlich: Am 15. Mai geht es nicht um die Innenausstattung von Ministerinnenbüros oder Staatskanzleien. Es geht um eine bessere Politik für die Menschen in NRW. Dafür arbeite ich.

Mit welchen anderen Parteien gibt es die größten Schnittmengen?

Neubaur Wir sind ein politischer Vollsortimenter. Dort wo wir in Verantwortung stehen, gehen wir ganz konkret die Probleme der Menschen an. Unsere Ziele sind klar: Der Kampf gegen die Klimakrise und die Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen auf der einen Seite, auf der anderen die Stärkung unserer Infrastrukturen, um Teilhabe für alle zu garantieren. Das werden wir mit einem großen Selbstbewusstsein und maximaler Selbstständigkeit vertreten. Und ja: wir sind bereit eine nächste Landesregierung mit unseren Inhalten zu prägen. Wer nach der Wahl mit wem redet, entscheiden die Wählerinnen und Wähler. Wir sind mit allen demokratischen Parteien gesprächsfähig.

CDU und FDP machen sich fast täglich Liebeserklärungen. Glaubwürdig?

Neubaur Wenn es um „echte Liebe“ und Schwarz-Gelb geht, dann fällt mir ehrlich gesagt nur der BVB ein.

Der Ministerpräsident hat sich klar zum Kohleausstieg 2030 bekannt. Das könnte auch eine indirekte Liebeserklärung an Schwarz-Grün sein.

Neubaur Koalitionen sind keine Liebesbeziehungen, sondern die Verständigung auf gemeinsame Vorhaben für die nächste Legislaturperiode. Wenn Hendrik Wüst sich zum Kohleausstieg bekennt, ist das schön. Allein es mangelt an Taten.

Auch wenn der letzte Landwirt von Lützerath gerade seinen Hof verkauft hat: Wie gefährlich kann Ihnen die drohende Auseinandersetzung um das Dorf noch im Wahlkampf werden?

Neubaur Die Entscheidung von Eckhardt Heukamp ist zu respektieren. Ich kann verstehen, dass nach zehn Jahren Auseinandersetzung mit RWE die Kräfte aufgebraucht sind. Es geht jetzt darum, der Region insgesamt den gesellschaftlichen Frieden zurückzubringen und eine Zukunftsperspektive mit guten Arbeitsplätzen zu bieten.

Könnte sein, dass die Räumung demnächst von einer Landesregierung unter grüner Beteiligung durchgesetzt werden muss.

Neubaur Wenn es eine Grüne Regierungsbeteiligung gibt, wird es auch eine neue Leitentscheidung geben. Bis es soweit ist, würden wir dafür sorgen, dass RWE keine Fakten schafft.

Die FDP hat auf Wahlplakate „Es heißt ja nicht: Einigkeit und Recht und Freiheitsverbote“ drucken lassen. Was macht ein solcher Slogan mit Ihnen?

Neubaur Ich halte es für sehr gefährlich, den Freiheitsbegriff auf so eine Art und Weise plakativ zu stellen. Wir sprechen hier von überwiegend milden Schutzmaßnahmen, die wir gemeinsam ergriffen haben, um vulnerable Gruppen zu schützen. Das sollte die FDP nicht populistisch ins Lächerliche ziehen.

Wie schwierig ist für die Wahlkämpferin Mona Neubaur der Streit zwischen Bund und Ländern um das Infektionsschutzgesetz?

Neubaur Ich persönlich finde, dass das Infektionsschutzgesetz keine ausreichende Grundlage liefert, um zielgerichtet Maßnahmen im Land umsetzen zu können. Es ist aber nicht so, dass der aktuellen Landesregierung die Hände gebunden wären, Schutzmaßnahmen hätten verlängert werden können. Leider hat sich die FDP innerhalb der Bundesregierung aber auch hier in NRW entschieden, einen Egoistentrip zu fahren.

Wie kann sich NRW darauf vorbereiten, dass uns nicht im Herbst der nächste Corona-Lockdown erwischt?

Neubaur Ich hätte mir zum Beispiel gewünscht, dass die Schulministerin die Maskenpflicht nicht einfach abgeschafft oder zumindest den Schulen die Möglichkeit gegeben hätte, sie bei sich vor Ort anzuwenden. Die Maske ist und bleibt ein mildes Mittel. Ich hätte es darüber begrüßt, wenn es in Berlin zu einer Einigung in Sachen Impfpflicht gekommen wäre. Die Kolleginnen und Kollegen der Ampel hatten trotz gegensätzlicher Ansichten einen guten Kompromiss erarbeitet. Dass die Union diesen aus parteitaktischer Motivation heraus torpediert hat, ist eine Farce.

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