Starpianist in Essen Chopins Fackelträger

Essen · Krystian Zimermans überwältigender Soloabend beim Klavierfestival Ruhr.

Der polnische Pianist Krystian Zimerman.

Der polnische Pianist Krystian Zimerman.

Foto: Susesch Bayat, DGG

Über der frühen Klaviersonate f-Moll von Johannes Brahms liegt ein biografischer Schatten. Hoch am Himmel die Sonnen zweier Männer, die einander künstlerisch verehrten, doch dann ging der Ältere für den Rest seines Lebens ins Krankenhaus, und der Jüngere schrieb der Gattin des Älteren diese Zeilen: „Lange halte ich‘s gar nie mehr aus ohne Sie!“  Und dem langsamen Satz stellte er ein Gedichtzitat voran: „Der Abend dämmert, das Mondlicht scheint, da sind zwei Herzen in Liebe vereint und halten sich selig umfangen.“

Johannes Brahms war dieser Schwarmgeist, den am Ehepaar Schumann die vorbildhafte Meisterschaft Roberts und der unerreichbare Liebreiz Claras interessierten. Wenn man den großen Pianisten Krystian Zimerman jetzt mit dieser Sonate beim Klavierfestival Ruhr hört, dann klingt das Temperament des 20-jährigen Eroberers Brahms wie ein Charakterzug durch, der auch der Musik eingeschrieben ist. Beinahe hört man den jungen Brahms selbst spielen, über den Schumann mal schrieb: Der sei „ein junges Blut, an dessen Wiege Helden und Grazien Wache hielten“.

Zimerman geht mit einem prächtigen Schwarzen durch das Stück, der Pianist ist ein willensstarker Jockey, doch der Steinway ächzt nicht. Denn trotz des vehementen Zugriffs herrscht der Geist von Ritterlichkeit, von Erhabenheit, sogar von Gelassenheit. Der Pianist fordert und gibt alles, er bändigt das Klavierorchester, aus dem schier eine pianistische Sinfonie strömt, aber Schweiß werden wir nicht bemerken. Es ist hinreißend.

Zimerman darf nach seiner unfassbar tiefsinnigen Aufnahme von Schuberts B-Dur-Sonate vor einiger Zeit endgültig als einer der bedeutendsten lebenden Pianisten angesehen werden. Er macht sich rar, zahllose Skrupel bewachen sein künstlerisches Selbstverständnis, aber wenn er ein Werk in die Freiheit des Konzerts entlässt, dann ist es perfekt vorbereitet für den Eintritt in die öffentliche Schwingung. Nun hält Zimerman die vier Scherzi von Frédéric Chopin (neben den vier Balladen) gewiss immer frisch, für einen Polen sind sie ja eine Art Lebenselixier, die ideale Mischung aus Brillanz, Innigkeit, Prosa nach Art stürmischer Kurzgeschichten.

Doch jetzt in der Essener Philharmonie wirken sie noch einmal gereift, sie wollen nicht nur klirren, sondern vor allem bei sich selbst sein. Bei aller herrischen Virtuosität breitet sich eine unbegreifliche Intimität aus, Herr Zimerman lädt in seinen Salon, in dem das 19. Jahrhundert lebendig wird. Gestrig aber ist dieser Abend keine Sekunde, vielmehr trägt Zimerman das Feuer der Vergangenheit wie eine unauslöschliche Fackel in die Zukunft. So spielt man Chopin.

Hinterher ehrfürchtiger Beifall. Als Zugaben drei der vier Brahms-Balladen op . 10.

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