Bellingham, Koch und Co. Warum eine Regeländerung bei Kopfverletzungen unumgänglich ist

Analyse | Düsseldorf · Kopfverletzungen sind im Fußball zu einem wöchentlichen Thema geworden. Dortmunds Jude Bellingham ist der neueste Fall. Doch Regeländerungen lassen auf sich warten. Das ist fahrlässig, denn andere Sportarten geben Beispiele für vernünftiges Handeln.

 Spielte nach einem Zusammenprall zunächst weiter – und musste dann mit eine Gehirnerschütterung vom Platz: Robin Koch.

Spielte nach einem Zusammenprall zunächst weiter – und musste dann mit eine Gehirnerschütterung vom Platz: Robin Koch.

Foto: AFP/PAUL ELLIS

Jude Bellingham blieb einfach liegen. Der Engländer war beim BVB-Sieg am Mittwochabend (1:0) in Mainz mit Gegenspieler Niklas Tauer zusammengestoßen, auf den Rasen gesackt, stand auf, wankte zur Seitenlinie. Während Tauer ausgewechselt wurde, wurde Bellingham in der Kabine von einem Arzt am Kopf untersucht, kam zurück, spielte weiter und jubelte nach Schlusspfiff vor der Fanurve. „Das ist halt Jude. Der kommt dann einfach zurück“, sagte Trainer Marco Rose voller Bewunderung – schickte aber schnell nach: „Natürlich sind wir verantwortungsbewusst. Ich habe den Doc extra noch mal gefragt, ob alles gecheckt wurde. Wir haben gesagt, dass wir ein, zwei Minuten beobachten, wie er sich verhält.“ sagte Rose. Ein, zwei Minuten.

Es war ein weiteres Beispiel dafür, was im internationalen Fußball schiefläuft: Der Umgang mit Kopfverletzungen ist gelinde gesagt katastrophal. Viel zu häufig dürfen Akteure, die mit den Köpfen zusammenrasseln, noch weiterspielen. Viel zu häufig schützen die Verantwortlichen die Spieler nicht, indem sie sie auswechseln. Stefan Ortega, Torhüter bei Arminia Bielefeld, war vor einigen Monaten auch so ein Fall. Er spielte sogar bis zum Ende durch. Erst im Krankenhaus gab es die genaue Diagnose. Dabei können Gehirnerschütterungen schwere Konsequenzen haben, sind sogar lebensgefährlich, wenn es einen weiteren Schlag gegen den Kopf gibt. Das war bei Robin Koch von Leeds United im Februar zum Glück nicht der Fall. Ihm war allerdings bei seiner Auswechslung deutlich anzumerken, dass er benommen war, nachdem er sich in einem Kopfball-Zweikampf eine schwere Platzwunde am Schädel zugezogen und ebenfalls noch 20 Minuten weitergespielt hatte.

Wenn gemeinhin in den vergangenen Jahren über den Heldenmut der Sportler gesprochen wurde, wenn sie mit Gehirnerschütterungen weiterspielten, hatte die Verletzung von Koch ein Nachspiel. „Die Verletzung von Robin Koch von Leeds United zeigt erneut, dass die aktuellen Protokolle für Gehirnerschütterungen im Fußball der Sicherheit der Spieler keine Priorität einräumen“, beklagte die britische Spielergewerkschaft Professional Footballers‘ Association (PFA) in einem Statement und wandte sich dabei an die Regelhüter des Fußballs, das International Football Association Board (Ifab). Dieser Organisation obliegt es, die Regeln im Fußball so anzupassen, dass beispielsweise schwere Kopfverletzungen durch vorübergehende Auswechslungen gleich anständig behandelt werden können. Doch die Ifab scheint das Problem nicht als so dringend anzusehen, wie es eigentlich ist.

Zwar beschäftigt sich die Organisation seit 2020 mit diesem Thema, nachdem der europäische Kontinentalverband Uefa in ihren Wettbewerben regelmäßig Kopfverletzungen bei Spielern verzeichnete. Doch anders als zum Beispiel von der Spielergewerkschaft PFA gefordert, will die Ifab dauerhafte Wechsel ausweiten. In der Bundesliga etwa gibt es bereits die Möglichkeit, fünf Mal in einem Spiel in drei Wechselphasen die Spieler zu tauschen. Noch als Folge der Corona-Pandemie, bald regulär. Wenn es nach der Ifab geht, soll künftig bei Kopfverletzungen das Wechseln noch häufiger möglich sein. Dazu laufen aktuell schon Tests im internationalen Fußball. Die Premier League, die anders als die Bundesliga aktuell nicht fünf Auswechslungen erlaubt, nimmt an solch einem derzeit teil. In der Premier League ist es aktuell möglich, zwei zusätzliche Auswechslungen pro Team vorzunehmen, wenn ein Verdacht auf Kopfverletzungen besteht. So hätte übrigens auch verhindert werden können, dass der deutsche Nationalspieler Koch noch für Leeds United auf dem Platz gestanden hätte, bevor er schlussendlich ausgewechselt wurde. Leeds hatte diese Möglichkeit allerdings nicht in Betracht gezogen.

Die PFA und der Deutsche Fußball-Bund fordern hingegen temporäre Wechselmöglichkeiten, um einen Spieler vernünftig untersuchen zu können. „Wir sehen immer wieder Spieler mit möglichen Verletzungen am Gehirn, die dann ausgewechselt werden, wenn sich die Symptome offensichtlich verschlimmern“, schrieb die PFA nach dem Koch-Vorfall. „Vorübergehende Auswechslungen würden eine Spielfortsetzung ermöglichen, ohne dass ein Team in Unterzahl spielen müsste. Zudem würde der Druck auf Spieler und das medizinische Personal verringert, eine schnelle Entscheidung zu treffen.“

In ähnlicher Weise wird übrigens im Kostenpflichtiger Inhalt American Football agiert. Noch am Rande des Feldes werden Spieler, die mit den Helmen heftig aufeinander knallten, eingehend untersucht. Das sogenannte Concussion Protokoll sieht vor, dass Spieler erst dann wieder zurück auf das Feld dürfen, wenn eine Gehirnerschütterung von einem vereinsunabhängigen Arzt ausgeschlossen werden kann. Sollte dem nicht so sein, wird der betroffene Akteur für mindestens den Rest der Partie aus dem Spiel genommen. Am Training und an weiteren Spielen darf er dann erst wieder teilnehmen, wenn eine Gefahr für die Gesundheit ausgeschlossen werden kann.

Im American Football haben Kopfverletzungen eine traurige Tradition, Gehirnerschütterungen sind in dieser Sportart leider an der Tagesordnung. Viele Ex-Spieler leiden heute an der Krankheit Chronisch Traumatischer Enzephalopathie, kurz CTE, die durch zu viele Schläge auf den Kopf ausgelöst wird. Die Folgen sind beängstigend, weil Betroffene oft nicht mehr Herr über das eigene Wesen sind. Einer der aktuellsten Fälle ist der von Alonzo Adams, der sechs Menschen und dann sich selbst erschossen hatte. Später kam heraus: er litt an CTE – ausgelöst durch zu viele harte Schläge auf den Kopf.

Die National Football League (NFL) hat in den vergangenen Jahren, ausgelöst durch eine Klage vieler Ex-Profis, inzwischen viele Änderungen umgesetzt, um die Spieler zu schützen. So dürfen Spieler nicht mehr mit dem Helm voraus und gesenktem Kopf versuchen, andere Spieler umzutackeln. Ein Treffer Helm auf Helm ist ebenfalls verboten, um Kopfverletzungen zu vermeiden. Das Resultat laut einer Studie der Liga: die Anzahl von Gehirnerschütterungen ist von 192 (im Jahr 2015) auf 142 (im Jahr 2020) zurückgegangen.

Doch nicht nur im American Football und im Fußball gibt es Probleme mit Gehirnerschütterungen, – auch im Eishockey gelten sie als „größte Bedrohung der Sportart“, wie es René Fasel, der ehemalige Präsident des Eishockey-Weltverbandes IIHF, einmal sagte. Marco Nowak, der Verteidiger der Düsseldorfer EG, musste es bei seinem ersten Einsatz bei den Olympischen Spielen in Peking für die deutsche Nationalmannschaft leidvoll erfahren. Ein Check gegen den Kopf setzte ihn für mehrere Partien außer Gefecht.

Generell ist die Anzahl Kopfverletzungen im Sport alarmierend – und das nicht nur im Leistungssport. Knapp zwei Prozent aller Verletzungen im Vereinssport betreffen laut Angaben des Versicherungsunternehmens Arag das Gehirn. Bei etwa 700.000 verletzten Sportlerinnen und Sportlern im Vereinssport sind das immerhin 15.000, die mit Hirnverletzungen jährlich behandelt werden müssen.

Warum aber reagiert der Fußball so zurückhaltend bei Regeländerungen? Warum will die Ifab erst 2023 über den weiteren Umgang mit schweren Kopfverletzungen entscheiden? Diese Fragen sind kaum vernünftig zu beantworten, wenngleich man darauf verweisen muss, dass es die eine oder andere Veränderung schon gab. Seit 2014 können die Mannschaftsärzte die Spieler bei Kopfverletzungen bis zu drei Minuten lang auf dem Platz behandeln. Ob der Spieler anschließend weiterspielen kann, entscheiden die Mediziner autark, Spieler und Trainer dürfen also nicht mitentscheiden - das ist bei keiner anderen Verletzung so. Viel zu häufig wird aber darüber hinweggesehen. Seit drei Jahren gibt es zudem die Möglichkeit, mit Tablets auf der Bank die Zusammenstöße noch einmal anzuschauen, um so ein genaueres Bild der Situation zu bekommen.

Ein Problem im Fußball besteht aber solange, wie kein unabhängiger Arzt über den Gesundheitszustand der Spieler entscheidet. „Es fehlt an fundierter Sensibilisierung für dieses Thema bei Sportlern, Trainern und Ärzten und es gibt bislang keine einheitliche Definition des Begriffs Concussion“, zitiert das Bundesinnenministerium zum Beispiel Claus Reinsberger von der Universität Paderborn. „Wir brauchen für die Beurteilung von möglichen Schädigungen des Gehirnes eine standardisierte Diagnostik und situationsgerechte Behandlungsabläufe. Und wir müssen auch die Auswirkungen auf Spätfolgen im Blick haben“, ergänzte Dirk Stengel vom Zentrum für klinische Forschung am Unfallkrankenhaus Berlin. Das Thema wird also noch lange eins bleiben.

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