Gladbachs wundersame Rettung 2011 Von Favres Übernahme bis „Nie mehr Zweite Liga!“ in Bochum

Mönchengladbach · Am 25. Mai 2011 gelang Borussia in Bochum die Rettung, am Freitag steht das erste Pflichtspiel dort seit der Relegation an. Wir zeichnen Borussias bewegte Monate im Abstiegskampf unter Lucien Favre vor elf Jahren nach. Mit dabei: ein Eigentor mit der Faust und ein Tor wie ein Urknall.

Lucien Favre nach der Rettung in Bochum.

Lucien Favre nach der Rettung in Bochum.

Foto: imago sportfotodienst

35 Spiele, 87 Minuten, 46 Sekunden. So lange dauert es in der Saison 2010/2011, bis am Abend des 25. Mai in Bochum mit einem Gesang im Gästeblock der letzte Angstschweiß von der Stirn der Borussia-Fans verschwindet. „Nie mehr Zweite Liga!“, singen die 7000. „Nie mehr! Nie mehr, nie mehr!“

Igor de Camargos 1:0 im Hinspiel der Relegation hat die Wiedergeburt Borussias markiert, dieser Gesang markiert die Trennung von einer Zeit, die den Verein lange prägte. Marco Reus hat kurz zuvor den Ausgleich zum 1:1 erzielt. Borussia Mönchengladbach ein Anderthalbtligist? Das war 15 Jahre so, jetzt reicht es, und dieser Moment im Bochumer Ruhrstadion ist bis heute ja nur so feierlich, weil damals niemand ahnte, dass „Nie mehr Zweite Liga!“ ab 2012 allenfalls noch ironisch und irgendwann gar nicht mehr angestimmt werden sollte.

Was sich abspielt nach dem Abpfiff des Rückspiels der Relegation ist oft mit einer Meisterschaft verglichen worden. Aber bei welchem Titelgewinn mischen sich auf diese Weise Ekstase und Erleichterung? Lucien Favre muss, wie so oft in den folgenden Jahren, zum öffentlichen Zelebrieren des Erfolgs überredet werden. Der Fanbeauftragte Thomas „Tower“ Weinmann wird bei der „Humba“ zum Souffleur des Schweizers, Favre gibt den ersten flüsternden Vorsänger. Danach lassen die Spieler ihren Trainer hochleben, die Architektur des Bochumer Stadions ermöglicht einem Fotografen einen ikonischen Schnappschuss: Denn im Flug verdeckt Favre genau den Flutlichtmasten, sodass ihn der Lichtkegel wie ein Heiligenschein umgibt.

Wenn eine Zeit seit den glorreichen 70ern in Borussias Vereinsgeschichte Vorlagen gegeben hat für religiöse Anlehnungen, dann das Relegationswunder – das Favre nie so nennen wollte, verständlich, schließlich hatte er es akribisch erarbeitet. Die Arbeit beginnt am 14. Februar 2011 und jede Valentinstags-Analogien verbieten sich: Sieben Punkte Rückstand auf den Relegationsplatz hat Borussia nach 22 Spieltagen. Dass Gladbach in den verbleibenden zwölf Spielen zweimal öfter gewinnen wird als in den ersten 22? Dass sich die Zahl der Gegentore unter Favre um 70 Prozent verringern wird? Dafür fehlt am Valentinstag die Fantasie.

Keine zwei Minuten sind rum in Favres Premierenspiel gegen den FC Schalke 04, als Ex-Borusse Peer Kluge die Gäste in Führung bringt. Doch im Nachhinein wirkt der frühe Rückstand wie die erste geniale Amtshandlung Favres: Denn Borussia hat sich in den Monaten zuvor im Verspielen von Führungen verdient gemacht. Als Reus mit einem 108-Stundenkilometer-Schuss und Mo Idrissou per Kopf das Spiel drehen, hat Gladbach bereits zweimal die Latte getroffen. 2:1 geht es auch aus, und dass es sich wie eine Saisoneröffnung anfühlt, untermauert eine Aktion von Borussias Hauptsponsor: Der lässt eigentlich seit Beginn der Spielzeit nach jedem Heimsieg gelbe Bälle ins Publikum schießen, es war bislang nur niemandem aufgefallen – denn der gegen Schalke ist der erste.

In den folgenden Spielen kommt Borussia durch ein 1:2 gegen den VfL Wolfsburg, ein 2:0 gegen die TSG Hoffenheim und dem Last-Minute-1:1 durch Dante bei Werder Bremen nicht nur nicht voran, der Rückstand auf Platz 16 wächst sogar wieder leicht an. Aber die Leistungen stimmen. Nun soll am 18. März das Heimspiel gegen den 1. FC Kaiserslautern die Wende einleiten. Bei einem Sieg ist sogar der ein Nicht-Abstiegsplatz maximal noch drei Punkte weg.

Im strömenden Regen wirkt Favres Mannschaft allerdings gehemmter als in den vergangenen Wochen. Das Spiel plätschert im wahrsten Sinne dahin, bis Lautern nach rund einer Stunde eine Ecke bekommt. Logan Bailly faustet den Ball unkonventionell gegen Tony Jantschke, und bevor sich die Frage verfestigen kann, was das für eine merkwürdige Nummer war, fliegt die nächste Ecke in den Strafraum: Wieder Bailly, wieder die Faust, aber kein Mitspieler, der rettet, sondern ein Eigentor, das 0:1. In diesem Moment steigt Borussia zum ersten Mal ab in dieser Saison. Für 50.000 Fans fühlt es sich an jenem Freitagabend so an. Der Borussia-Park hat glasige Augen.

Logan Bailly traf ins eigene Tor gegen Kaiserslautern.

Logan Bailly traf ins eigene Tor gegen Kaiserslautern.

Foto: dpa/Bernd Thissen

Danach ist Länderspielpause, das folgende Auswärtsspiel beim FC Bayern wirkt wie ein überflüssiges Kapitel des sonst ja völlig zurecht gelobten Drehbuchs. Borussia verliert 0:1, so richtig erzählenswert ist nur die Tatsache, dass Bailly ein letztes Mal für Gladbach im Tor steht. Eine Woche später feiert Marc-André ter Stegen sein Bundesliga-Debüt, ein Eigengewächs aus der Stadt, gerade einmal 18 Jahre alt. Aus ter Stegen wird in den kommenden Wochen der „Goldene Rheydter“ werden. Kurz nach Favres Übernahme hat er sich verletzt. Als der 1. FC Köln am 10. April zum Derby kommt, ist ter Stegen gerade wieder fit. Der Youngster strahlt eine Souveränität und Coolness aus, für die ihn 90 Prozent aller Länder sicherlich einbürgern würden, um ter Stegen zum Nationaltorwart zu machen. Ohnehin ist es ein großer Feiertag: Borussia gewinnt 5:1.

Ab jetzt entfaltet das Drehbuch sein Oscar-Potenzial so richtig. „Lucien Favre hat gefühlt vor jedem Spiel gesagt, wir müssen gewinnen, sonst sind wird tot“, erinnert sich Havard Nordtveit. Tatsächlich stirbt die Hoffnung nur fünf Tage nach dem Derby-Kantersieg gegen Köln erneut. Gladbach gerät beim FSV Mainz 05 in Unterzahl, Mike Hanke sieht Gelb-Rot. Dass Schiedsrichter Deniz Aytekin mal einer der besten und beliebtesten Schiedsrichter der Bundesliga werden wird, erscheint an diesem Abend so unwahrscheinlich wie das Erklingen der Champions-League-Hymne im Borussia-Park 16 Monate später. So strittig wie der Platzverweis war, so eindeutig ist der Elfmeter, den Reus nicht bekommt, als Eugen Polanski ihm gegen den Fuß tritt. Wenige Minuten vor dem Ende besiegelt André Schürrle den zweiten gefühlten Abstieg mit dem 1:0 für Mainz.

 Deniz Aytekin stellt Mike Hanke in Mainz vom Platz.

Deniz Aytekin stellt Mike Hanke in Mainz vom Platz.

Foto: Dieter Wiechmann/Wiechmann, Dieter (dwi)

Am Ostersamstag, 23. April, kommt Borussia Dortmund und mit ihr rund 20.000 BVB-Fans. Viele Gladbach-Anhänger haben Wochen vorher ihre Karten verkauft, wohl in der Annahme, es würde am 31. Spieltag schon um nichts mehr gehen für ihre Mannschaft. Die, die gekommen sind, freuen sich kurz vor dem Anpfiff erst einmal, dass nicht das passieren kann, weshalb so viele Dortmunder gekommen sind: Der BVB wird an diesem Abend noch nicht Deutscher Meister, weil Bayer Leverkusen gewonnen hat.

Es ist brütend heiß am Niederrhein, an den Getränkeständen ist nicht nur Bier gefragt, sondern auch jede Menge Wasser. Abstiegsangst fördert Dehydration. Und so dürften jede Menge Fans gar nicht an ihrem Platz sein, als Juan Arango einen langen Ball auf Idrissou schlägt. Der Stürmer setzt sich im Laufduell mit Neven Subotic durch und schlenzt den Ball an Roman Weidenfeller vorbei in die kurze Ecke. Favre war nie ein Idrissou-Fan. Der Kameruner spielt vermutlich überhaupt nur so regelmäßig, weil de Camargo, der nicht ohne Grund bislang so selten vorkam in diesem Text, lange verletzt fehlt. Idrissou ist auch der einzige Held dieser Rettung, der im Sommer danach den Verein verlässt.

Marc-André ter Stegen, da noch 18 Jahre alt, schreit die Freude raus über das 1:0 gegen den späteren Meister Dortmund am 31. Spieltag.

Marc-André ter Stegen, da noch 18 Jahre alt, schreit die Freude raus über das 1:0 gegen den späteren Meister Dortmund am 31. Spieltag.

Foto: imago sportfotodienst

Hätte sich jemand vor zehn Jahren schon für „Expected Goals“ interessiert, wäre Gladbach anhand der Chancenverteilung sicher kein hochverdienter Sieg zugeschrieben worden. Dieser Erfolg kommt äußerst unerwartet, erstmals seit 2008 schlägt der Tabellenletzte den Tabellenführer. Die schwarz-weiß-grüne Borussia springt durch den Überraschungserfolg erstmals seit Mitte November 2010 auf Platz 17. Die Rettung ist nah? Beileibe nicht. Der Relegationsplatz ist weiterhin drei Punkte weg.

Eine allerletzte Chance jagt die nächste. An ter Stegens 19. Geburtstag reist Borussia nach Hannover. Die 96er sind Dritter und träumen von der Champions League (dieses Drehbuch übertreibt es aber wirklich an manchen Stellen). Um den dritten Platz wird Hannover von einer Mannschaft gebracht, die aufspielt wie ein potenzieller Europapokal-Teilnehmer. Reus fehlen per Freistoß nur Zentimeter, Idrissou trifft die Latte. In einigen hundert Kilometern Entfernung macht Köln den BVB mit einem Sieg gegen Leverkusen zum Meister und bereitet Gladbach neue Sorgen: So langsam gehen die Kandidaten aus, die Borussia noch ein- und überholen kann. Eine Viertelstunde vor Schluss sorgt Reus für die Erlösung.

Gegen den SC Freiburg geht es Gladbach am vorletzten Spieltag nicht so leicht vom Fuß. Die Konkurrenz spielt wenigstens mit und zur Pause steht es 0:0 im Borussia-Park, die siebte erste Hälfte in Folge ohne Gegentor. Nur einmal wird Gladbach unter Favre am Ende mehr als eins kassiert haben. Schlussviertelstunden werden so langsam Borussias Ding: Nach der 76. in Hannover fällt das 1:0 diesmal in der 80. Minute. Hanke, bis dahin oft noch nicht so heldenhaft unterwegs, macht sein erstes Tor für Gladbach. Die Entscheidung bereitet er vor. Als Reus allein aufs Oliver Baumann zuläuft, brandet bereits ein Jubel auf, wie er oft nicht zu erleben ist, wenn der Ball schon drin ist.

Mit dem 2:0 gegen den SC Freiburg am 33. Spieltag springen Borussia und Marco Reus auf den Relegationsplatz.

Mit dem 2:0 gegen den SC Freiburg am 33. Spieltag springen Borussia und Marco Reus auf den Relegationsplatz.

Foto: imago sportfotodienst

Auf dem Relegationsplatz fährt Borussia am 14. Mai zum Hamburger SV, Köln hat geholfen mit einem Sieg in Frankfurt. „Ist ja nichts passiert“, könnte jemand denken, der die Tabelle des 34. Spieltags mit der des 33. abgleicht. Doch Gladbach ist zwischenzeitlich eine halbe Stunde lang direkt gerettet, dank des Freistoßtores von Arango. Und das, obwohl Frankfurt bei Party-fokussierten Dortmundern lange vorne liegt. In der 71. Minute scheint Gladbach dann doch „tot“ zu sein, aber alle Fans mit Knopf im Ohr wissen: Alles gut, drei Sekunden zuvor hat die Eintracht den Ausgleich kassiert. Es sind die letzten Tage des Radio-Zeitalters, Smartphone-Besitzer noch in der Minderheit, Netz gibt es im Stadion meist nur an beiden Enden des Spielfeldes. Frankfurt verliert am Ende, steigt nach einer Hinrunde auf Europa-Kurs ab, genau wie der FC St. Pauli – am Valentinstag hatten sie elf und zwölf Punkte Vorsprung auf Gladbach.

Am 19. Mai kann jeder das Radio zu Hause lassen. Dass Borussia in der Relegation wenigstens mal Europacup-Arithmetik mit Hin- und Rückspiel erlebt, ist zu jener Zeit ein zynischer Witz. Manch einer wird wider besseres Wissen lange Zeit wirklich gedacht haben, Auswärtstore zählten doppelt. Es entwickelt sich gegen Bochum ein gutklassiges Duell im Vakuum zwischen den Ligen, auch wenn die Gladbacher spüren, dass sie nach Monaten erstmals wieder etwas zu verlieren haben.

Nervöse Stille und euphorische Anfeuerung wechseln sich ab. Für die 50.000 Borussia-Fans ist das Zuschauen körperliche Arbeit. Als die Schlussphase anbricht, scheinen sie sich noch mal aufzuraffen. Es wirkt, als helfe es der Mannschaft, das Gleiche zu tun. Aber immer ist da Bochums Torwart Andreas Luthe. Die Nachspielzeit wird angezeigt, zwei Minuten gibt es nach drei Wechseln auf jeder Seite, dazu musste ter Stegen kurz behandelt werden und Bochum wirkte zwischenzeitlich sehr zufrieden mit dem 0:0.

Borussia Mönchengladbach: Igor de Camargo - der Mann für wichtige Tore
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Igor de Camargo – Gladbachs Mann für die wichtigen Tore

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Zuschauer können keine Tore schießen, aber ihnen gebührt zumindest ein kleiner Scorerpunkt, weil sie Arango nach einem kurz ausgeführten Abstoß zu einem letzten langen Schlag schreien. Der bringt den Einwurf, neun Sekunden vor Ablauf der Nachspielzeit. Nordtveit gönnt sich die nötige Vorbereitung. „Dabrowski. Und da ist de Camargo. Und ist schon wieder Luthe. Und da ist Hanke. De Camargo, Toooor!“ – für Borussia-Fans ist Steffen Simons Kommentar Lyrik. „Und was jetzt los, das ist ja unfassbar!“

Trotzdem vergehen noch einmal 87 Minuten und 46 Sekunden im Rückspiel, bis sich alle sicher sind: „Nie mehr Zweite Liga!“ Lange führt Bochum, es steuert nach Nordtveits Eigentor auf eine Verlängerung zu, bis Reus in der 72. trifft. Drei Minuten Nachspielzeit gibt es diesmal, welche Ironie wäre das, wenn Bochum 14 Sekunden nach deren Ablauf das wertlose 2:1 erzielen würde? Doch es ist pünktlich Schluss. Und Gladbach ist, das legen die folgenden Bilder nahe, Meister. Relegationsmeister 2011.

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