Jahresrückblick 2011 Das härteste Jahr der Kanzlerin

Berlin · Ein Kanzlerjahr zählt sieben Menschenjahre. Das hat der sozialdemokratische Ex-Kanzler Gerhard Schröder in der Hochphase seines innerparteilichen Streits um die Sozialreformen gerne erzählt.

Merkels 140-Stunden-Woche
22 Bilder

Merkels 140-Stunden-Woche

22 Bilder

Schröders Nachfolgerin Angela Merkel dürfte diese Zahl korrigieren wollen. Die 57-jährige Regierungschefin hat ein politisch turbulentes, ein intensives Jahr hinter sich wie vielleicht keiner ihrer Vorgänger. Eine politische Achterbahnfahrt, mit überraschenden Kurven, rasanten Abfahrten und kleinen Unfällen.

Energiewende verändert Deutschland

Beispiele gefällig? Im März nahm Merkel eine Atomkatastrophe im fernen Japan zum Anlass, um den radikalsten Positionswechsel einer Bundesregierung durchzuziehen. In wenigen Monaten stülpte die Koalition mit Hilfe der verdutzten Opposition dem Land ein Energiekonzept über, das einen jahrzehntelangen gesellschaftlichen Konflikt eindämmen ließ und das Land nachhaltig verändern wird.

Im gleichen Monat stürzte ihr beliebtester Minister, CSU-Star a.D. Karl-Theodor zu Guttenberg über Plagiate in seiner Doktorarbeit. Die glamour-freie Naturwissenschaftlerin im Kanzleramt hatte sich über den Star in ihrem Kabinett durchaus gefreut und legte sich in der Affäre dafür sogar mit der Wissenschaft ("Ich habe keinen wissenschaftlicher Mitarbeiter berufen").

Westerwelles Fall

Wenig später musste Merkels langjähriger Sparringspartner und früherer Cabrio-Beifahrer Guido Westerwelle sein Parteiamt abgeben. Und Merkel sich an den jungen, unerfahrenen FDP-Mann Philipp Rösler gewöhnen. Dem Verfall der Liberalen schaute die Kanzlerin fortan weitgehend erstaunt zu. Ihr liberales Geschenk, Steuersenkungen ab 2013, geriet im Sommer gar zum Kommunikationsdesaster.

Die Reibereien zwischen ihren Ministerinnen Ursula von der Leyen und Kristina Schröder wollte oder konnte Merkel nicht verhindern. Und die verbalen Ausfälle ihres Kanzleramtschefs Ronald Pofalla gegen einen Parteifreund brachten negative Schlagzeilen.

Ringen um Libyen-Position

Im Norden Afrikas fielen derweil reihenweise Herrschaftsregime und legten peinlich offen, mit welch zweifelhaften Charakteren sich westliche Staatschefs arrangiert hatten (Mubarak, Gaddafi). Mehr noch: Im Streit um den Nato-Militäreinsatz in Libyen schlugen sich Regierungschefin Merkel und ihr Außenminister Westerwelle auf die Seiten Chinas und Russlands und damit gegen die Verbündeten Frankreich, USA und Großbritannien.

Von einer "Zäsur" in den transatlantischen Beziehungen war hernach die Rede. Da konnte auch das schmucke Abendessen der Kanzlerin im Garten des Weißen Hauses nichts ändern. Das Verhältnis zu US-Präsident Obama ist auf eine pragmatisch-professionelle Ebene abgekühlt.

Merkel wartete ab

Dennoch: Angela Merkel saß sämtliche Debatte gewohnt stur aus, besänftigte hier und da mit spitzen Kommentaren oder wartete bis die Medien ein neues Thema gefunden hatten. In den Popularitätswerten blieb die Kanzlerin eine Freundin des Volkes.

Ihre Aufmerksamkeit galt spätestens seit dem EU-Gipfel im März 2011, als die Staatschefs den dauerhaften Euro-Rettungsschirm mit rund 500 Milliarden Euro Kreditvolumen beschlossen, ohnehin nur noch der Staatsschuldenkrise. Drei europäische Gipfel, ein halbes Dutzend bilaterale Treffen mit Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, Hunderte Telefonate mit EU-Staatschefs und diverse Regierungserklärungen im Bundestag später ist der Euro zwar nicht gerettet.

Freunde und Gegner in Europa

Doch auf dem jüngsten EU-Gipfel im November verpassten sich immerhin 26 Staaten ein finanzpolitisches Korsett, das in der EU-Geschichte eine historische Weichenstellung bedeuten könnte und Merkels Vorstellungen für Europa entspricht. Merkel will Europa zu einer dynamischen Wettbewerbszone umbauen, die ihre Schuldenlast in den Griff bekommt und mit den Wirtschaftsregionen Südostasien und Amerika konkurrieren kann. Mittelfristig zumindest.

In der Euro-Krise mutierte die Kanzlerin je nach Sichtweise und geografischem Standort zur bewunderten Führerin Europas oder zur meistgehassten Politikerin. In Griechenland, das auf Druck der Deutschen ein rigides Sparprogramm umsetzen muss, wurde Merkel auf Plakaten ein Hitler-Bart angeklebt. In englischen Karikaturen wird sie als politische Domina gezeigt. Die deutsche Regierungschefin blieb stur.

Politisch überlebt

Euro-Bonds und eine Aufstockung des Rettungsschirms lehnte sie ab. Die meisten europäischen Staatschefs hat Merkel heute überlebt. Mag ihre Berliner Koalition ein dauerhaftes Krisenbündnis sein, in Europa ist Merkels Führungsanspruch unzweifelhaft. Erneut hat das US-Magazin "Forbes" die ostdeutsche Pfarrerstochter zur mächtigsten Frau der Welt erkoren. Polens Premier Donald Tusk kürt Merkel zur "besten europäischen Führungspersönlichkeit".

Nur: welchen Preis zahlt die Kanzlerin dafür? Vor allem einen persönlichen. Für die geschätzte Gartenarbeit in der mecklenburgischen Datscha fand Merkel dieses Jahr kaum Gelegenheit. Ein politikfreies Wochenende? Gab es nicht, heißt es im Kanzleramt. Und als Angela Merkels Vater, der Templiner Pfarrer Horst Kasner, im September im Alter von 85 Jahren verstarb, gönnte die Euro-Krise der Kanzlerin nur wenige Tage Trauer.

Euro-Frage ist die Kanzlerfrage

Im Bundestag musste Merkel zwei Tage später erneut ihre Europa-Politik verteidigen. Die Bundeskanzlerin, der gelegentlich eine politische Beliebigkeit nachgesagt wird, hat in der Krise ihr zentrales politisches Projekt gefunden. Die Euro-Frage ist die Kanzlerfrage. Merkels Strategen wissen, dass die Kanzlerin nur wiedergewählt wird, wenn sie die europäische Krise bis 2013 einigermaßen in den Griff bekommt.

Dass dafür 70-Stunden-Wochen notwendig sein können, wird in Kauf genommen. Und im kommenden Jahr, so viel ist sicher, wird sich daran wenig ändern. "Wie sie das alles durchhält, bewundere ich schon", sagt die sonst so kritische Grünen-Chefin Claudia Roth anerkennend. Dabei ist es nicht die sportliche Ertüchtigung, die Merkel fit hält.

Neugierige Physikerin

Es ist eine fast kindliche Neugier, mit der die CDU-Politikerin Probleme angeht. Gierig nimmt die Physikerin jedes neue Detail, jede Wendung, die ihr in der europäischen Schuldenkrise auf den Tisch gelegt wird. Merkel freue sich richtig auf langwierige europäische Verhandlungen, sagt einer ihrer Berater. Die Zeit sei "spannend wie damals bei der Wiedervereinigung", hat Merkel neulich in kleiner Runde gesagt.

Wenn Regierungsmitarbeiter nach nächtelangen Krisensitzungen blass und erschöpft am frühen Morgen in ihre Büros kommen, hat die Kanzlerin oft schon den neuesten Euro-Kurs oder die Zinssätze für italienische Staatsanleihen erkundet. "Spreads", der Renditezuschlag, den Investoren bei einer Anlage in ausfallgefährdete Staatsanleihen erhalten, ist eines der am meist gebrauchten Kanzlerwörter des Jahres 2011.

Europa ist nicht alles

Doch Europa ist nicht alles. Nebenbei führte die CDU-Chefin ausgerechnet mit ihrem liberalen Regierungspartner Mindestlöhne in fünf Branchen ein, bekannte sich auf dem Parteitag der Christdemokraten kurzerhand zu einer bundesweiten Lohnuntergrenze und setzte bei den Konservativen auch noch das zweigliedrige Schulsystem durch.

Mal abgesehen von der Aussetzung der Wehrpflicht, eines der historischen Projekte, die mit dieser Koalition verbunden bleiben wird. Auf die Frage, welche Kern-Positionen die CDU denn im Jahr 2012 noch abräumen könnte, antwortete ein erschöpfter CDU-Bundesminister kürzlich. "Was ist denn noch übrig?".

Spannend bleibt es

Wer nun denkt, Angela Merkel müsste nach einem Jahr der Positionswechsel, der Rücktritte und der Krisenpolitik in der Partei und im Volk angeschlagen sein, irrt. Auch die jüngste Affäre um Bundespräsident Christian Wulff wird Merkel durchstehen, heißt es.

Mit seiner persönlichen Entschuldigung und dem Willen im Amt zu bleiben, hat sich Wulff Zeit verschafft und der Kanzlerin ruhige Weihnachtstage ermöglicht. Grund genug für die Kanzlerin also, ihr siebtes Amtsjahr entspannt anzugehen. "Spannend" werde es, sagt Merkel. Noch spannender als 2011?

(csi/rm)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort