Paar nimmt Flüchtlingsfamilie aus der Ukraine auf Obdach im Orchesterhaus

Loikum/Wesel · Die Weseler Buchhändlerin Eva Korn und ihr Lebenspartner, der Dingdener Hausarzt Walter Johannes Smits, haben in ihrem Haus spontan eine fünfköpfige Familie aus Kiew aufgenommen, die vor dem Krieg in der Ukraine geflohen ist. Ein Besuch.

Eva Korn und Walter Johannes Smits haben Maryna Sokolova (Mitte), deren drei Kinder und Schwester Katja (am Flügel) aufgenommen.

Eva Korn und Walter Johannes Smits haben Maryna Sokolova (Mitte), deren drei Kinder und Schwester Katja (am Flügel) aufgenommen.

Foto: Klaus Nikolei

Hätte Wladimir Putin nicht vor einem Monat seinen Angriffskrieg auf die Ukraine gestartet, würden Eva Korn und ihr Lebensgefährte Walter Johannes Smits weiterhin abends in ihrem gemütlichen Haus in Loikum zusammensitzen, etwas Leckeres essen und bei einem Glas Rotwein und guten Gesprächen den Tag ausklingen lassen. Hätte Putin nicht das russische Nachbarland bombardiert, würden Maryna Sokolova, ihr Mann Oleksandr und die Kinder Karina (10), Angelina (8) und der kleine Sascha (3) abends in ihrer Wohnung in Kiew gemeinsam lecker essen, einen Tee trinken und den Tag bei guten Gesprächen ausklingen lassen. Aber Putin hat am 24. Februar die Ukraine angegriffen, damit unerträgliches Leid über die Menschen dort gebracht und Millionen zur Flucht gezwungen. Darunter auch Maryna Sokolova mit ihren Kindern und ihrer 22-jährigen Schwester Katja.

Rückblende: Anfang März, an einem Mittwochmorgen, treffen Eva Korn und Walter Johannes Smits, erschüttert von den Berichten über den Krieg, den Entschluss, Flüchtlingen in ihrem Haus ein Obdach zu gewähren. Denn Platz gibt es im ehemaligen Lehrerhaus gegenüber der Loikumer Dorfkirche genug. Hier leben der in Dingden praktizierende Allgemeinmediziner und die Weseler Buchhändlerin seit einigen Jahren. Doch wie nur kann man Kontakt zu Menschen aufnehmen, die auf der Flucht sind?

Der musikaffinen Eva Korn kommt spontan die Idee, unter anderem Raimund Wippermann, den Direktor der Robert-Schumann-Hochschule in Düsseldorf zu kontaktieren. Wippermann ist von ihrer Kontaktaufnahme tief berührt, da ihn gerade an diesem Morgen eine Studentin hilfesuchend kontaktiert hatte. Eine Freundin sei mit ihrer Schwester und deren drei Kindern von Kiew auf der Flucht. Sie befinden sich auf dem Weg nach Düsseldorf und wissen nicht wohin.

Tags drauf ruft besagte Studentin bei Eva Korn an: „Die fünf sind in Düsseldorf.“ Die Buchhändlerin schließt kurzfristig ihren Laden in der Weseler Fußgängerzone, holt aus Loikum den VW-Bus und fährt zum Weseler Bahnhof, wo sie auf die Flüchtlingsfamilie wartet, die mit dem Regionalexpress anreist. „Ich werde den Augenblick nicht vergessen, als ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Alle sahen sehr müde aus. Kein Wunder, waren sie doch acht Tage lang in Zügen, Bussen und Autos unterwegs“, erzählt Korn. „Nur Sascha, der war nicht müde, strahlte über das ganze Gesicht.“

Sascha ist es auch, der an jenem Abend, an dem unsere Redaktion im alten Loikumer Lehrerhaus zu Gast ist, strahlend die Haustür öffnet und den Gast fröhlich empfängt. Seine Schwestern Karina und Angelina begrüßen den Fremden ebenfalls freundlich und nennen in Englisch ihre Namen. Englisch sprechen auch ihre Mutter und deren Schwester. Auch wenn sie ununterbrochen an ihre Lieben in der Ukraine denken, so wissen sie doch, dass sie unheimliches Glück im Unglück haben. Nicht nur, weil die Chemie zwischen ihnen und „Tante Eva“ und „Opa Johannes“, wie die Kinder sagen, stimmt. Sondern auch, weil die deutsche Gastgeberfamilie ein so schönes Haus bewohnt, in dem es unter anderem einen Flügel und zwei Klaviere gibt. Katja Sokolova, die vier Jahre lang in Kiew Klavier studiert hat, spricht vom „Orchesterhaus“. Übrigens spielen auch Maryna Sokolova und die beiden Töchter Klavier.

Es ist kurz vor 20 Uhr. Alle haben in der schmucken Wohnküche Platz genommen. Maryna Sokolova hat Bortsch gekocht, eine traditionelle Suppe mit Roter Bete und Weißkohl. Dazu gibt es Toastbrot und Tee. Die Mädchen verteilen Teller, stellen Becher auf den Tisch. „Seit Maryna, Katja und die Kinder hier sind, trinken wir keinen Wein mehr, sondern nur noch Tee“, sagt Eva Korn und lacht. Allen schmeckt es.

Auf Bitten des Gastes erzählt Maryna Sokolova, die als Managerin bei der Nationalbank in Kiew gearbeitet hat und gut Englisch spricht, von ihrer Flucht. Sie hat, als die ersten Bomben nahe Kiew fielen, die Kinder zu Hause abgeholt und mit in die Bank genommen, wohin auch ihre Schwester geflohen ist. Dort haben sich alle sicher gefühlt. Ein Freund bietet der Familie an, sie in seinem Auto zur moldawischen Grenze zu fahren. Weil die Hauptverkehrsstraßen dicht sind, nutzt der Freund der Familie Schleichwege. Alle müssen im Auto übernachten.

Weil es nicht möglich ist, nach Moldawien einzureisen, ist das nächste Ziel die polnische Grenze. Dort harren sie mehrere Stunden aus, bevor sie mit einem Bus Richtung Warschau fahren können. In der polnischen Hauptstadt übernachtet die Familie bei Bekannten von Maryna Sokolovas Eltern. „Es war eine wahre Odyssee“, sagt die junge Mutter. Ihr Mann, der nicht kämpfen muss, kümmert sich um ihre Mutter. Diese will nicht fliehen, weil sie ihren 90-jährigen Vater nicht alleine lassen will. „Und bei Luftangriffen will meine Mutter nicht in den Keller, weil sie Angst hat, sich dort womöglich zu erkälten. Wir machen uns große Sorgen“, sagt Maryna Sokolova.

Über Facebook finden die beiden Schwestern und die drei Kinder einen Mann, der von Warschau nach Dortmund fährt und Plätze im Auto frei hat. „Ein Bekannter meines Mannes lebt in Dortmund, wo wir eine Nacht bleiben konnten. Dann wollten wir weiter nach Düsseldorf zu Anna, die mit Katja zusammen studiert hat.“ Der Rest ist bekannt.

Während Maryna Sokolova erzählt, sitzen ihre Töchter auf dem Schoß von „Opa Johannes“. „Die Mädchen fühlen sich hier richtig zu Hause und sind sehr anhänglich“, sagt Eva Korn. Sie hofft, möglichst bald einen Kindergartenplatz für den kleinen Sascha zu bekommen („Den kennt im Dorf fast schon jeder“) und wünscht sich, dass die beiden Schwestern möglichst schnell in die Grundschule nach Wertherbruch gehen können. Entsprechende Gespräche mit den zuständigen Behörden stehen an.

Kaum zu fassen, dass Maryna Sokolova in den vergangenen Tagen mehrfach von Loikum aus mit ihrem Arbeitgeber in Kiew per Videokonferenz Kontakt hatte und praktisch im Homeoffice gearbeitet hat. Doch mittlerweile ist das nicht mehr möglich. „Jetzt müssen wir abwarten, was passiert“, sagt Walter Johannes Smits. Die Kinder spielen, Katja Sokolova übt fleißig am Flügel. Denn alles spricht dafür, dass sie demnächst ihr Studium an einer Musikhochschule fortsetzen kann. „Wir waren jüngst zusammen mit Katja in der Robert-Schumann-Hochschule zu einem Benefizkonzert zugunsten der Ukraine, bei dem junge Studierende aus der Ukraine, aus Russland und Belarus gespielt haben“, erzählt Eva Korn. „Katja war von dem Konzert emotional besonders beeindruckt.“

Auch wenn Maryna Sokolova sich große Sorgen um alle ihre Verwandten und Freunde in der Heimat macht, weiß sie mittlerweile genau, wie gut sie und ihre Familie es in Deutschland, genauer gesagt in Loikum, getroffen hat. Das Gefühl auf der Flucht zu sein konnte sie in dieser familiären Atmosphäre nach und nach ablegen. Die gegenseitige Sympathie und die gemeinsamen kulturellen Interessen bilden eine gute Grundlage für ein harmonisches Miteinander.

„Wenn wir abends nach Hause kommen und uns die Kinder jubelnd umarmen und drücken, dann sind wir oft sehr gerührt und wissen, dass die Entscheidung richtig war, eine Flüchtlingsfamilie bei uns zu Hause aufzunehmen“, sagt Eva Korn. Und ein Glas Wein können sie und ihr Lebenspartner gelegentlich ja auch mal nach dem Abendessen trinken. Dann, wenn die Gäste aus der Ukraine zu Bett gegangen sind.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort