Fachklinik in Radevormwald „Alkoholsucht entwickelt sich oft schleichend“

Radevormwald · Hüseyin Kum ist seit März Leiter des Curt-von-Knobelsdorff-Hauses. In der Klinik des Blauen Kreuzes werden vor allem Männer mit Alkoholkrankheit behandelt.

 Hüseyin Kum vor dem Eingang des Curt-von-Knobelsdorff-Hauses. Die Klinik wird vom Blauen Kreuz getragen, einer traditionsreichen Organisation für die Behandlung der Alkoholkrankheit.

Hüseyin Kum vor dem Eingang des Curt-von-Knobelsdorff-Hauses. Die Klinik wird vom Blauen Kreuz getragen, einer traditionsreichen Organisation für die Behandlung der Alkoholkrankheit.

Foto: Jürgen Moll

Am Anfang steht oft das Bierchen am Feierabend, für viele Deutsche normal. „Danach fühlen sich die Leute ruhiger, und nach und nach, wenn es Stress gibt, werden es zwei Bierchen und dann immer mehr. Alkoholsucht entwickelt sich meist schleichend, oft über ein Jahrzehnt hinweg“, sagt Hüseyin Kum. Der 52-Jährige ist seit März 2022 neuer Leiter des Curt-von-Knobelsdorff-Hauses in Radevormwald, einer Fachklinik für Suchterkrankungen. Kum hat die Nachfolge von Dr. Bernd Wessel angetreten. Vor allem Menschen mit Alkoholkrankheit wird in dem Gebäude an der Hermannstraße therapeutische und medizinische Hilfe geboten.

Hüseyin Kum ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, mit den Zusatzbezeichnungen Suchtmedizin, Stressmedizin, Verkehrsmedizin, Psychotraumatologie und Medizinethik. Zudem ist er Medizinischer Gutachter. Kum stammt aus Essen, wo er auch heute lebt; sein Vater, türkischer Herkunft, arbeitete als Bergmann unter Tage. Auch seine Geschwister sind im medizinischen Bereich tätig, erzählt er. Mit dem Thema Suchtmedizin kam er zuerst bei seiner Arbeit auf einer Station in Iserlohn zu tun, wo im Rahmen einer Substitution Methadon an Heroinsüchtige abgegeben wurde. Bevor er seine neue Aufgabe in Radevormwald angetreten hat, war er als Chefarzt der LWL-Klinik im sauerländischen Hemer tätig, ebenfalls auf dem Gebiet der Suchtmedizin.

Es gibt viele Formen der Sucht, doch Alkohol bleibt in unserem Kulturraum die am weitesten verbreitete Droge. „Deutschland liegt bei diesem Problem international leider weit vorne“, sagt der Mediziner. In der Pandemie habe sich die Lage verschärft.

Über die Alkoholkrankheit kursierten Stereotypen und Missverständnisse. Zum Beispiel: „In den Medien, etwa in Filmen, wird das Trinken gerne als Unterschichtenproblem dargestellt.“ Doch Alkoholismus trifft Menschen aus allen sozialen Schichten, und Frauen haben in der Statistik leider in den vergangenen Jahrzehnten aufgeholt.

Was den Entzug angeht, so sollten Betroffene nicht versuchen, auf eigene Faust von einem Tag auf den anderen mit dem Trinken aufzuhören. „Dieser so genannte kalte Entzug kann gefährlich sein, manchmal endet er tödlich“, sagt Kum. Medizinische Hilfe bei der Entgiftung sollte auf jeden Fall in Anspruch genommen werden. „Das nennt man dann warmen Entzug. Die schweren körperlichen Symptome können durch eine medikamentöse Begleitung gelindert werden.“

Im Curt-von-Knobelsdorff-Haus stehen 60 bis 65 stationäre Plätze zur Verfügung, derzeit werden nur Männer behandelt. „Wir bieten auch ambulante Unterstützung an, täglich von 8 bis 16 Uhr“, erläutert der Suchtmediziner. Dieses Angebot richte sich vor allem an Betroffene, die zuvor stationär aufgenommen waren. Den Weg in die Klinik finden Alkoholkranke meist über Beratungsstellen, in denen ein Antrag für Rehabilitation vorbereitet wird, oder nach einer bereits durchgeführten körperlichen Entgiftung. „Es kommt auch vor, dass Betroffene selber bei uns anrufen“, sagt Hüseyin Kum. „Wer Hilfe braucht, kann das immer tun.“ Die Klinik kann rasche Hilfe anbieten, längere Wartezeiten, wie man sie bei anderen Reha-Maßnahmen in Kauf nehmen muss, gibt es somit nicht. Verschiedene therapeutische Angebote helfen den Patienten, den Weg aus der Sucht zu finden. „Wir bieten Einzelgespräche und Gruppentherapie an“, schildert der Klinikleiter den Ablauf. „Physio- und Sporttherapie spielen eine wichtige Rolle.“

Zwölf bis 16 Wochen sind der übliche Zeitraum für die Behandlung in der Fachklinik. „Die Gewöhnung an den Alkohol geht über Jahre“, sagt der Arzt. Um das zu überwinden, brauche es Zeit. Die Menschen müssten lernen, mit Lebenssituationen neu umzugehen, und sei es nur, wieder ohne die „Hilfe“ von Alkohol schlafen zu können.

Die Klinik erziele gute Ergebnisse, sagt Kum, das Leben mit der Alkoholkrankheit bleibt allerdings auch nach dem Ende der Therapie eine Herausforderung. Jeder Tropfen Alkohol kann zu einem Rückfall führen, und sei es nur eine Weinbrandbohne. Die körperliche Genesung ist nur ein Teil der Behandlung, doch wesentlich ist es, dass der Betroffene nicht in das alte Fahrwasser gerät, beispielsweise in ein Milieu zurückkehrt, in dem viel Alkohol getrunken wird.

Als Experte für Sucht hat Hüseyin Kum eine besondere Perspektive auf gesellschaftliche Entwicklungen. „Die Getränkeindustrie passt sich an, bringt neue Produkte auf den Markt“, sagt er. Eine Prohibition, ein völliges Verbot des Verkaufs von Alkohol, wie es im 20. Jahrhundert in den USA versucht wurde, hält der Arzt allerdings für einen Irrweg. Er plädiert für mehr Aufklärung, vor allem unter jungen Menschen, und für ein Werbeverbot. „Außerdem sollte Alkohol nur an besonderen Stellen abgegeben werden“, meint er.

Mit gemischten Gefühlen betrachtet Hüseyin Kum die Pläne der Bundesregierung zur Legalisierung von Cannabis. Es stimme zwar, dass der Ermittlungsaufwand für die Polizei in keinem vernünftigen Verhältnis stehe. „Aber ich habe gesehen, was Cannabis anrichten kann“, sagt er. Gefährdet seien auch hier vor allem junge Menschen. Mögliche Folgen des Konsums können Psychosen, Depressionen, Angstzustände und negative Persönlichkeitsveränderungen sein.

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