Lungenspezialist Thomas Voshaar aus Moers „Eine Impfpflicht ist nicht die Lösung“

Interview · Der Lungenspezialist vom Bethanien-Krankenhaus in Moers spricht im Interview über Boostern, Lockdown und 2G im Einzelhandel. Und wo er uns in drei bis vier Wochen sieht.

 Thomas Voshaar ist Chefarzt der Lungenklinik am Bethanien-Krankenhaus Moers.

Thomas Voshaar ist Chefarzt der Lungenklinik am Bethanien-Krankenhaus Moers.

Foto: Bethanien/Pascal Skwara

Herr Voshaar, Sie sind Co-Autor eines Aufsatzes, in dem es heißt, die Pandemie sei „im Wesentlichen vorbei“. Wie ist das gemeint?

Voshaar Gemeint ist das Pandemie-Management. Es ging und geht in erster Linie darum, Menschen vor schweren Verläufen und dem Tod zum schützen, meist Menschen über 60 und mit Vorerkrankungen. Durch den Impferfolg ist das gut gelungen. 90 Prozent der Menschen über 60 sind geimpft, schwere Verläufe sind bei Geimpften selten. Derzeit beträgt das mittlere Sterbealter bei den an Covid-19 erkrankten Patienten 84 Jahre, das liegt über der allgemeinen Lebenserwartung. Das Problem sind die zehn Prozent nicht geimpfter älterer Menschen. Sie machen mehr als die Hälfte aller Fälle auf Intensivstationen aus.

Wie überzeugen wir diese und andere Menschen, sich impfen zu lassen?

Voshaar Wir dürfen nie aufhören, mit der Vernunft zu argumentieren, aufzuklären und zu appellieren. Wir werden niemals alle Menschen erreichen, aber immer mehr. Druck führt nur dazu, dass Menschen sich weiter zurückziehen. Ich glaube nicht, dass eine Impfpflicht die Lösung ist. Für diesen Winter ohnehin nicht. Und die vierte Welle wird sich in drei, vier Wochen entspannen und verlagern.

Warum sind Sie davon so überzeugt?

Voshaar Die Pandemie entwickelt sich nicht überall gleich, sondern in Clustern; das können einzelne Familien, Nachbarschaften, Städte, Kreise oder Regionen sein. Es war bisher zu beobachten, dass die meisten Menschen in Regionen mit hohen Inzidenzen von sich aus vorsichtig sind. Das führte dazu, dass Inzidenzen schon zurückgegangen sind, bevor Lockdown-Maßnahmen gegriffen haben.

Ein Lockdown ist aktuell wohl nicht geplant, aber nicht ganz vom Tisch.

Voshaar Ein General-Lockdown ist eine Verzweiflungstat, weil man vorher nicht gezielt und konsequent genug gehandelt hat. Statt bundesweiter Maßnahmen sollten wir bei Bedarf regional und kurzfristig reagieren. Und die Menschen brauchen klare Handlungsanweisungen. Zurzeit herrscht bei vielen Angst, und Angst blockiert das Denken.

Wie sollte man sich denn verhalten?

Voshaar Zum Beispiel überfüllte Räume meiden, viel Lüften, Maske tragen. Die Raumgröße und die Zahl der Personen darin spielt eine große Rolle. Zwei Personen eine Viertelstunde lang in meinem Büro – ok. Fünf Personen – nicht ok. Draußen findet dagegen keine Ausbreitung des Virus statt.

Sind das nicht Dinge, die inzwischen jeder weiß?

Voshaar Das hoffen wir. Aber es finden wieder Ansteckungen in Kneipen und Bars statt, weil die Leute da gerne hingehen.

Wenn sich das Virus draußen nicht ausbreitet, warum werden die Zuschauerzahlen in Stadien begrenzt?

Voshaar Es ist nicht das Stadion als solches. Es ist die Anreise in überfüllten Straßenbahnen, es sind tausende Menschen auf den Toiletten und beim Pommesholen.

Auch die 2G-Regel für Geschäfte ist umstritten. Was halten Sie davon?

Voshaar Das ist sehr schwierig, weil auch Geimpfte und Genesene das Virus kriegen und verbreiten können, wenn auch bei weiten nicht so intensiv wie Ungeimpfte. Wenn man aber darauf achtet, dass nicht zu viele Menschen in ein kleines Geschäft strömen und Masken getragen werden, dann ist auch 2G in Ordnung. Es bedeutet aber immer nur eine Risiko-Reduktion, keine 100-prozentige Sicherheit.

Brauchen wir mehr Kontrollen?

Voshaar Vielleicht, aber nur wegen einiger weniger Menschen. Die meisten, jung wie alt, verhalten sich richtig. Wir sollten aber die anderen nicht verteufeln. Wir sind soweit, dass viele den totalen Lockdown fordern, eine Impfpflicht für alle, und alle, die anders denken, verhaften wollen. Es gibt kein Vertrauen mehr darin, dass wir das überstehen. Aber das werden wir, und zwar umso besser, je mehr wir uns auf wissenschaftliche Erkenntnisse verlassen.

Nochmal zurück zum Impfen. Die neue Bundesregierung will bis zu 30 Millionen Impfungen noch in diesem Jahr organisieren.

Voshaar Wir brauchen eine hohe Durchimpfung als Grundimmunisierung der Bevölkerung, dann müssen wir die Dinge aber auch laufen lassen, Infektionen zulassen, damit das Virus endemisch werden kann. Dann gehört es sozusagen zu uns, wie ein Schnupfen. Beim Impfen sollten wir aber den besonders gefährdeten alten und kranken Menschen den Vortritt lassen. Boostern ist in erster Linie auch für Ältere hochbedeutsam. Und wir sollten nicht glauben, dass wir jeden Todesfall verhindern. Das konnten wir nie und werden wir nie können. Wir sollten unser Lebens- und Menschenbild dahin korrigieren. Da ist etwas an Demut und Verstand verloren gegangen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort