Kolumne Dozentinnenleben Leseratten an der längsten Theke

Sind Bücherwürmer eine aussterbende Spezies? In ihren Seminaren erscheint es unserer Autorin manchmal so. Umso mehr hat sie sich über die zufällige Begegnung mit jungen Literaturfreunden aus dem Nachbarland gefreut.

 Karin Wilcke ist selbstständige Studienberaterin und Dozentin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Karin Wilcke ist selbstständige Studienberaterin und Dozentin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Foto: Schaller,Bernd (bs)/Schaller, Bernd (bs)

Früher nannte man Menschen, die viel und gerne lasen, liebevoll Leseratten. Als Literaturwissenschaftlerin an der nach dem Dichter Heinrich Heine benannten Uni gewinne ich leider manchmal den Eindruck, dass meine Studenten nicht wirklich gerne lesen. Bei umfangreicherer Literatur geht ein regelmäßig kollektives Stöhnen durch den Seminarraum. Lange Texte sind out, das gute alte Buch ist von Kindle und Co. abgelöst, und für eine schnelle Info reicht das Handy. Wozu noch in die Bibliothek gehen, wenn man doch mit drei Wikipedia-Artikeln schon eine Hausarbeit schreiben kann? Was ist aus den Leseratten geworden? Eine ausgestorbene Spezies?

Wie erfreut bin ich, auf der Bolkerstraße eine Gruppe junger Leute schnurstracks auf die Buchhandlung im Heine Haus zugehen zu sehen. Das ist ja nicht eine x-beliebige Buchhandlung, sondern etwas für echte Leser. Als ich dort eintrete, kommt mir die Gruppe schon wieder auf dem Weg nach draußen entgegen. Ich frage die nette Buchhändlerin, was sie denn gewollt hatten. Ach, sie hätten gefragt, wo denn hier die längste Theke der Welt zu finden sei. Das käme öfter vor. Oh, keine Leseratten, doch wohl eher Schluckspechte. Doch da hatte ich mich geirrt: Sie kamen noch einmal zurück, sagten leicht verlegen, sie hätten gerade erst gemerkt, dass das ja das Heine Haus wäre, und nun wollten sie doch auch in den Büchern stöbern. Sie sprechen in der Gruppe untereinander holländisch, und da sie keine merkwürdig-lustigen Verkleidungen tragen, ist es wohl ausnahmsweise auch kein Junggesellenabschied. Nein, sie entdecken zwar gerade die Düsseldorfer Altstadt mit einem Reiseführer, der besonders diese berühmte „längste Theke der Welt“ herausgestellt hätte, aber im Grunde sind sie wegen der Bildung hier: Als Erasmus-Austausch-Studenten von der flämisch-sprachigen Freien Universität Brüssel verbringen sie das Sommersemester an der Uni Düsseldorf. Da Deutsch eine ihrer Fremdsprachen ist, wollen sie auch deutschsprachige Bücher kaufen, und der Dichter Heinrich Heine ist ihnen natürlich aus dem Studium ein Begriff. Und getreu dessen Motto: „So ein bisschen Bildung ziert den ganzen Menschen“, wechseln ein paar Bücher die Besitzer. Mit Heine-Gedichten in der Tasche macht man auch an der längsten Theke einen kultivierten, sensiblen und intellektuellen Eindruck. Von mir noch schnell ein Hinweis auf den für Besucher manchmal ruppig wirkenden Umgangston der Köbesse, dann wünsche ich der Leseratten-Gruppe einen schönen Abend an der längsten Theke. Vielleicht sind ja ein paar Partylöwen darunter?

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