Kolumne „Mit Verlaub!“ Die Faszination eines Scheintoten
Meinung · Wie der Sozialismus mit dem Beiwort „demokratisch“ schmackhaft gemacht wird.
Vor einer Woche habe ich die sprachliche Umweltverschmutzung aufs Korn genommen, mit der eine weitere Stadtverwaltung glaubt, auf Gender-Ideologen Rücksicht nehmen zu müssen. Es gab daraufhin neben ganz wenig Kritik an der Kritik viel Zustimmung von Leserinnen und Lesern, die sich über den verordneten Schreib- und Sprechunfug („Lübecker:innen“ und so weiter) ärgern. Ob sich Vernunft auch Bahn bricht, wenn es um Sozialismus, den Scheintoten der Zeit, geht? Wir lesen von Wiederbelebungsversuchen. Dabei tut sich die neue SPD-Vorsitzende Saskia Esken hervor. Bestürzend ist: Sie gehört jener Partei an, deren herausragendes Mitglied Helmut Schmidt einst gesagt hat, Politik erfordere die Leidenschaft zur Vernunft. Also müsste man doch dem Sozialismus, nach allem, was er Mensch und Umwelt angetan hat, den Stecker ziehen. Dass Esken und ihr Vize Kevin Kühnert das Gegenteil im Schilde führen, um Wähler zu angeln, zeigt: Es muss eine Faszination des Scheintoten geben.
Ach, sähen doch alle Deutschen so klar wie der Leipziger Künstler Wolfgang Mattheuer (1927 – 2004). Der Schmallenberger Historiker Thomas Kemper erinnert in einem Aufsatz 30 Jahre nach der Wiedervereinigung daran, wie sich Mattheuer im Wende- und Wunderjahr 1989 dem Bemühen von Künstlern, Politikern, Pfarrern widersetzte, den Sozialismus nicht sterben zu lassen. In Mattheuers Brief an die Schriftstellerin Christa Wolf heißt es: Aus dem Elend des Sozialismus heraus eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik entwickeln zu wollen, sei weltfremd und gefährlich.
Esken und Genossen wissen um das Schmutzwort Sozialismus; deshalb möchten sie es durch das Beiwort „demokratisch“ reinigen, auf dass der Köder schmeckt. Wir bräuchten mehr Mattheuers im Land, die sich nicht hinter die Fichte führen lassen.
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