„Tatort: Videobeweis“ aus Stuttgart Erst Sex, dann Mord bei der Firmenfeier

Stuttgart · Wer manipuliert hier wen? Mehr #MeToo-Thriller als Krimi ist der 28. „Tatort“ mit Lannert und Bootz. Ein exzellenter Blick auf Verführung, Vergewaltigung und den gigantischen Graubereich dazwischen.

 Einer ist der Mörder: Kim Tramell (Ursina Lardi) und Oliver Jansen (Oliver Wnuk).

Einer ist der Mörder: Kim Tramell (Ursina Lardi) und Oliver Jansen (Oliver Wnuk).

Foto: SWR/Benoît Linder

3G war auch schon in der Vor-Corona-Ära Trumpf: Zu Firmen-Weihnachtsfeiern nämlich gehörten damals neben Glitzerkleidchen und Gesang häufig auch Grenzüberschreitungen. Zu viel Alkohol, zu tiefe Blicke und zu hohe Hormonspiegel führten zu Abfuhren und Abmahnungen, Ohrfeigen, Seitensprüngen – und wer weiß wie oft auch zu dem, was der Gesetzgeber „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ nennt. Aber zumindest Mord war nun wirklich selten.

Dieser Neujahrs-„Tatort“ wurde vor einem Jahr gedreht, als man hoffte, dass in großer Runde angestoßen und getanzt werden dürfte. Und zwar so exzessiv, dass Gebäudereiniger wie Keran (Serdar Karabiyik) bekümmert seufzt: „Kaum dürfet die wieder, zerleget die de halbe Lade.“

Idris Demir (Ulas Kilic) liegt am Morgen nach der Feier seines Versicherungskonzerns tot im Foyer des schicken Bürogebäudes. Bootz (Felix Klare) ist schon vor Ort, Lannert (Richy Müller) stößt dazu. Was muss, das muss – zickender Porsche hin, zwickender Rücken her.

Das Mordopfer hatte die Feier bereits verlassen, war aber Minuten später zurückgekehrt. Wollte er seinem Chef die Meinung geigen? Der nämlich hatte Geschlechtsverkehr mit einer Untergebenen, der Demir beruflich wie privat verbunden war. Kim Tramell heißt die Dame – vermutlich nicht verwandt mit Sharon Stones Figur Catherine Tramell aus „Basic Instinct“. Aber vielleicht geistesverwandt?

Schnell steht jedenfalls fest: Entweder sein Chef oder seine Konkurrentin hat Demir in den Tod gestoßen.

Lannert und Bootz machen sich an die Ermittlungen. Dafür problematisch und fürs Publikum reizvoll ist, dass sich auch Lannert der Dame (sagenhaft facettenreich: Ursina Lardi) nicht entziehen kann, die Männern wie Frauen fast am Fließband den Kopf verdreht. Kurze Röcke und hohe Schuhe sowie ihr hübsches Gesicht tragen ihren Teil dazu bei, aber auch enormer Intellekt, Stilsicherheit und schiere Kompetenz auf den unterschiedlichsten Gebieten. Die Frau ist Model, Mathematikerin und dazu noch Mechanikerin – eines dieser unwahrscheinlichen Multitalente, die sonst nur in TV-Shows wie „Schlag den Raab“ vorkommen.

Doch ist diese Meisterin aller Klassen auch Manipulateurin oder sogar Mörderin? Oder ist der so harmlos wirkende Versicherungsboss Oliver Jansen (mutig gegen den Strich besetzt: Oliver Wnuk) der Schurke? Auf wessen Seite sich der Zuschauer anhand der vorliegenden Fakten – in erster Linie einem kurzen Video – schlägt, hängt wohl vor allem von seiner eigenen Biografie ab.

„Videobeweis“ ist kein Krimi mit pflichtgemäßer Verfolgungsjagd und all dem anderen Quark, sondern ein auf ganz eigene Art sehr gelungener Thriller zur „MeToo“-Debatte um Macht, Verführung, Vergewaltigung und den gigantischen Graubereich dazwischen. Das Thema ist hochrelevant, die Umsetzung schick, ohne dabei zu aufdringlich zu werden. Beide Episodenhauptrollen sind sehr stark besetzt; der aus der (in einer Versicherung spielenden!) Bürosatire „Stromberg“ bekannte Wnuk kann mit der exzellenten Ursina Lardi beinahe mithalten. Bloß die Polizeischülerin (Amelie Herres) ist  etwas zu offensichtlich nur existent, um den beiden alten weißen Männern eine junge weibliche Perspektive entgegenzusetzen. Ein glänzender Film.

Wer das Spiel mit Nunancen und Interpretationsspielräumen mag, Dilemmata im Stile von Ferdinand von Schirachs „Terror – Ihr Urteil“ oder den Verhör-Thriller „Die üblichen Verdächtigen“, wird auch „Videobeweis“ mögen. Und wer Gut und Böse, Schuld und Unschuld fein säuberlich getrennt bevorzugt, der wird bei vielen der 1183 anderen „Tatort“-Folgen fündig, die auch in diesem Jahr ein ums andere Mal wiederholt werden.

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