Ukraine-Krieg Kinderflüchtlinge werden zur großen Herausforderung für Gastländer

Chisinau · In den vergangenen 20 Tagen sind pro Minute 55 Kinder aus der Ukraine geflüchtet – verängstigt, verwirrt, traumatisiert. Sie brauchen nicht nur eine Bleibe, sondern auch psychische Betreuung – eine zusätzliche enorme Aufgabe für die Gastländer.

Eine Frau trägt ihr Kind am Bahnhof von Lwiw, der größten Stadt im Westen der Ukraine.

Eine Frau trägt ihr Kind am Bahnhof von Lwiw, der größten Stadt im Westen der Ukraine.

Foto: dpa/Mykola Tys

In Przemysl, einer normalerweise verschlafenen polnischen Grenzstadt mit 60.000 Einwohnern, treffen weiter Züge mit ukrainischen Flüchtlingen ein. Dazu zählen die 41-jährige Switlana Bibikowa aus der Region Kiew und ihre drei Kinder. Auf der Reise, so schildert sie, habe jedes lautere Geräusch, sogar das von Zugbremsen, ihre Sprösslinge vor Angst zittern lassen. Ihre elfjährige Tochter Dascha erinnert sich an den ersten Morgen daheim, an dem sie durch den Lärm explodierender russischer Raketen geweckt wurde, und wie ihre Mutter sagte, „dass der Krieg angefangen hat“.

Nadja Tschernenko aus der Region Dnipro erzählt, dass sie das Wort Krieg im Beisein ihrer Kinder vermieden habe, um sie schützen. Wenn Raketen in der Nähe eingeschlagen seien, habe sie ihren Kleinen gesagt, „dass es nur Feuerwerkskörper sind, die da explodieren, und dass alles bald wieder normal wie früher wird“. Aber, so fügt sie hinzu, „ich habe Angst, dass sie fürs Leben gezeichnet sein werden.“

Nach jüngsten Angaben des UN-Kinderhilfswerks Unicef machen Kinder etwa die Hälfte der drei Millionen Ukrainer aus, die seit Beginn der Invasion am 24. Februar vor den russischen Angreifern geflohen sind - zumeist nach Polen, Ungarn, Rumänien, Moldau und in die Slowakei. An die Ukraine angrenzende Länder haben einen endlos erscheinenden Zustrom erlebt, und neben der Unterbringung stehen ihre Behörden und andere Einrichtungen jetzt vor der zusätzlichen monumentalen Aufgabe, traumatisierten ukrainischen Kindern langfristige psychische Hilfe zu bieten.

In den vergangenen 20 Tagen sind durchschnittlich jede Minute 55 Kinder aus der Ukraine geflüchtet, und der Trend wird angesichts des russischen Vormarsches wahrscheinlich andauern. Die neuen Ankünfte dürften die unterfinanzierten und schlecht gemanagten öffentlichen Schulen im kleinen Moldau überfordern, aber auch die im relativ wohlhabenden Polen, wo Schulunterricht auf Polnisch erfolgt, was die meisten Ukrainer nicht sprechen.

Fotos: Ukraine-Krieg - Menschen flüchten aus dem Land
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Menschen flüchten aus der Ukraine

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Foto: AP/Emilio Morenatti

Psychologen zufolge scheinen ukrainische Flüchtlingskinder nicht fähig zu sein, die Längerfristigkeit ihrer Abwesenheit von daheim und der Trennung von ihren Vätern zu verstehen, die in der Ukraine bleiben müssen, um die Invasoren zu bekämpfen. Manche Kinder sagten beharrlich, dass sie sich auf einer kurzen Ferienreise befänden, eine Schulpause hätten, sagt Irina Purcari, eine Schulpsychologin, die ukrainische Kinder im größten Flüchtlingszentrum in Chisinau, der Hauptstadt von Moldau, betreut.

Wenn die Kinder einträfen, „sind die meisten verängstigt, abgeneigt, Kontakt aufzunehmen“. Sie sprächen über ihre Väter „nicht im Zusammenhang mit Feindseligkeiten (den Krieg)“ – wahrscheinlich ein Weg, das Gefühl zu haben, das alles in Ordnung sei, erklärt die Psychologin.

Die 34-jährige Ukrainerin Tamara Berkula traf am vergangenen Montag mit ihren Kindern in Chisinau ein und war dort erstmals seit Tagen in der Lage, eine Nacht durchzuschlafen. Berkula erzählt von den schrecklichen Szenen, die sie und die Kinder auf ihrer Flucht aus Mykolajiw sahen, einer strategisch wichtigen ukrainischen Stadt, die über Tage hinweg heftige Angriffe erlebt hat. „Zuhause hatte ich Angst, weil wir uns ständig in Fluren und im Keller versteckt haben“, wirft ihre zehnjährige Tochter Lilija ein.

In einem sechsgeschossigen Gebäude in der polnischen Hauptstadt Warschau, das als Unterkunft für die verwundbarsten Flüchtlinge dient, verbringt die freiwillige Helferin Irina Panasevicz ihre Tage mit Anrufen bei Kinderbetreuungsstätten und Schulen, um Plätze für neu eingetroffenen Flüchtlingskinder zu finden. Im langen Korridor, der an ihrem Büro vorbeiführt, spielen Kinder verschiedenen Alters miteinander. Noch vor ein paar Wochen hatten sie eine normale Kindheit. Jetzt ist sie mit Furcht vor russischen Soldaten durchtränkt.

„Russland macht Krieg gegen die Ukraine, wir wollen nicht, dass Russland uns nimmt“, formuliert der siebenjährige Bogdan Kolesnik seine Ängste und zappelt nervös auf dem Schoß seiner Mutter.

(dpa)
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