Viersen Der erste Gastarbeiter war schon 1959 da

Adnan Sargin verließ die Türkei, um in Dülken ein neues Leben anzufangen. Sein Sohn Alpay erinnert sich.

 Viersens erster Gastarbeiter Adnan Sargin kam 1959 erst Mal alleine in die Stadt. Seine Frau  Ülkü holte er nach.

Viersens erster Gastarbeiter Adnan Sargin kam 1959 erst Mal alleine in die Stadt. Seine Frau  Ülkü holte er nach.

Foto: Sargin

Es klingelt an der Haustür, also unterbricht Alpay Sargin kurz das Gespräch am Esstisch. „Das können nur die Zeugen Jehovas sein“, sagt der 44-Jährige und geht die Treppe runter ins Erdgeschoss. Oben ist zu hören, wie er die Haustür öffnet, freundlich einen Mann begrüßt. „Tut mir leid, heute habe ich keine Zeit“, sagt Sargin. „Das waren wirklich die Zeugen Jehovas, normalerweise unterhalte ich mich mit ihnen etwa eine halbe Stunde“, erzählt er zurück am Esstisch. Und fügt lachend an: „Wir Dülkener sind eben jedem gegenüber tolerant.“

Toleranz ist ein wichtiges Thema für den Sohn des ersten Gastarbeiters in Viersen, ebenso wie Integration. Das ist auch bis zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier durchgedrungen, an dessen Kaffeetafel zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes er in Berlin Platz nehmen durfte.

Dülken ist Sargins Heimat. „Dadurch, dass meine Eltern voll integriert waren, konnte ich hier aufwachsen wie jedes andere Kind auch“, sagt er. Sein Vater Adnan war einst eine richtige Berühmtheit in der Stadt. Der erste Gastarbeiter in Viersen – und das schon zwei Jahre, bevor 1961 das Anwerbe-Abkommen zwischen Deutschland und der Türkei unterzeichnet wurde. Kurz nach seiner Ankunft besuchte ihn ein Mitarbeiter der Rheinischen Post bei der Arbeit als Schlosser in einer Dülkener Firma. Auch 2011 berichtete die Rheinische Post über ihn, der Titel des Artikels: „Vor 40 Jahren noch ein Medienstar“. Seine Mutter habe früher stolz die Zeitungsartikel aufgehoben, erinnert sich Alpay Sargin. Mittlerweile leben seine Eltern nicht mehr, der Vater starb 2005, Mutter Ülkü 2018.

Der Sohn hat die Geschichte, wie es seinen Vater nach Deutschland verschlug, oft gehört: Adnan Sargin lebt in Istanbul, lernt die junge Ülkü kennen, die sein Interesse weckt. Auch Ülkü ist interessiert. Der Erzählung nach stellt sie Adnan in Aussicht: „Wenn wir nach Deutschland gehen, heirate ich dich.“ Als der Schlosser in Istanbul einen Maschinenbau-Ingenieur kennenlernt, stellt der den Kontakt zur Dülkener Firma Adrians her. Adnan Sargin bekommt eine Stelle, reist nach Dülken. „Meine Mutter hat er später nachgeholt“, sagt Alpay Sargin. Eigentlich hatten die Eltern geplant, ein paar Jahre dort zu verbringen, Geld zu sparen und wieder in die Türkei zu ziehen. Doch sie lebten sich ein, bekamen zwei Söhne und die Familie blieb. Der Schlosser wechselte den Beruf, machte sich selbstständig und eröffnete ein Reisebüro.

Der Vater sei Ansprechpartner für viele Gastarbeiter gewesen, die nach ihm in Viersen ankamen, erzählt Sargin. Er sei als Dolmetscher mit zu Bürgermeister-Sprechstunden gegangen, politisch aktiv gewesen, außerdem in einem Kulturverein und als Schöffe am Gericht in Mönchengladbach. Sargin hat noch eine Schöffen-Urkunde des Vaters, hinter Glas mit braunem Holzrahmen eingefasst. Als die Eltern in Deutschland ankamen, lebten sie in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit einem kleinen Fenster zum Innenhof in Dülken, in den 60er-Jahren zogen sie in eine moderne Wohnung, später in ein Eigenheim.

Heute bewohnt Alpay Sargin das Elternhaus, bewahrt dort neben Urkunden Erinnerungsstücke wie Fotoalben mit Schwarzweiß-Aufnahmen der Eltern auf. Einige Bilder zeigen ein junges Paar, modern gekleidet. „Meine Familie hatte immer einen Bezug zur Religion, war aber nicht übermäßig religiös“, sagt Sargin. „Ich habe meine Mutter nie mit einem Kopftuch gesehen, sie hatte lange blonde Haare.“ In Dülken habe er sich immer gut integriert gefühlt, betont der 44-Jährige. „Ich fühle mich deutsch, ich denke in Deutsch. Die Türkei kenne ich nur aus dem Urlaub.“ Dennoch erlebt er Situationen, in denen er in Deutschland wegen seiner türkischen Wurzeln als Ausländer wahrgenommen wird. Und Situationen, in denen er mit „diesem Schubladendenken“ konfrontiert wird, diesem Vorurteil „Ausländer gleich kriminell“.

 Alpay Sargin traf bei der Geburtstagskaffeetafel zu „70 Jahre Grundgesetz“ in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Alpay Sargin traf bei der Geburtstagskaffeetafel zu „70 Jahre Grundgesetz“ in Berlin Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Foto: Sargin
 Adnan Sargin (r.) arbeitete in Dülken in einem Metallbaubetrieb, später hatte er ein Reisebüro.

Adnan Sargin (r.) arbeitete in Dülken in einem Metallbaubetrieb, später hatte er ein Reisebüro.

Foto: Sargin
 Alpay Sargins Eltern als junges Paar mit seinem Onkel Ali Basaraner bei einem Ausflug.

Alpay Sargins Eltern als junges Paar mit seinem Onkel Ali Basaraner bei einem Ausflug.

Foto: Sargin

Sargin ist besorgt. „In der letzten Zeit ist die Lage viel angespannter geworden, das ist eine gefährliche Entwicklung“, sagt er. Also wandte sich der Dülkener mehrmals schriftlich an den Bundespräsidenten – und erhielt im März eine Einladung zur „70 Jahre Grundgesetz“-Geburtstagskaffeetafel am Schloss Bellevue, um mit den anderen Gästen über die Werte des Grundgesetzes und Integration zu diskutieren. Dabei nutzte Sargin auch gleich noch die Gelegenheit, sich mit Bundeskanzlerin Angela Merkel fotografieren zu lassen. Sargin nimmt sein Smartphone vom Esstisch, sucht ein Video heraus, spielt es ab. Es zeigt Frank-Walter Steinmeier am Tag der Kaffeetafel am Rednerpult. Er begrüßt die Gäste, stellt heraus, wie vielfältig dieses Publikum ist: „Sie sind zwischen 15 und 85 Jahren alt. Sie sind Polizistin und Schlachtermeister, Sänger und Ordensschwester, Youtuber und Bundeskanzlerin. Sie sind ein Zollbeamter, dessen Vater der erste türkische Gastarbeiter in Viersen war.“ Sargin ist als Zuschauer zu sehen, er neigt den Kopf, wischt sich mit der Hand über die Augen. „Das war für mich ein sehr emotionaler Moment“, sagt er und legt das Smartphone zurück auf den Tisch. „Da waren so viele Gäste, ich hatte nicht damit gerechnet, dass er mich und vor allem auch meinen Vater erwähnt.“ Den ersten Gastarbeiter Viersens – noch immer ein Star.

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