Krefeld „Der Schütze saß tot in seiner Kabine“

Krefeld · Ein Schüler des Fabritianum hat seine Erinnerungen an die „Kinderlandverschickung“ aufgeschrieben. Titel: „Meine Odyssee“.

 Johannes Pechan (r.) überreicht Fabritianum-Schulleiter Eric Mühle ein Exemplar seiner Erinnerungen an die „Kinderlandverschickung“.

Johannes Pechan (r.) überreicht Fabritianum-Schulleiter Eric Mühle ein Exemplar seiner Erinnerungen an die „Kinderlandverschickung“.

Foto: Thomas Tillmann/Fabritianum / Thomas Tillmann

Es gibt eine Szene, die Kindheit und Krieg schrecklich verbindet: Johannes Pechan hat 1943 als Zwölfjähriger ein abgeschossenes britisches Kampfflugzeug sehen müssen. „Der Heckenschütze saß noch tot in seiner Maschinengewehrkabine“, berichtet Pechan. Um das Wrack herum lagen Bonbons, die aus der Maschine herausgeschleudert worden waren. „Wir Jungen“, erzählt Pechan, „trauten uns nicht, welche zu nehmen, weil wir befürchteten, dass diese vergiftet sein könnten. Die Versuchung war sehr groß, da Bonbons zu dieser Zeit eine große Seltenheit waren.“

Zu dieser Zeit: Johannes Pechan, heute 87 Jahre alt, war 1943 ein Junge aus Duisburg-Serm, der im Fabritianum zur Schule ging. Der Schulbetrieb wurde im August 1943 eingestellt, die Schüler in Gegenden geschafft, in denen die Bedrohung durch Fliegerangriffe geringer sein sollte als in Krefeld. Pechan hat seine Erinnerungen dazu aufgeschrieben. Ein Exemplar seines 56 Seiten umfassenden Manuskripts hat er dem Fabritianum vermacht.

Im August 1943 hatte Krefeld den verheerenden Bombenangriff vom Juni 1943 hinter sich, an den die Stadt heute in einem ökumenischen Gottesdienst erinnert. Der Druck auf die Region ließ nicht nach; fast jede Nacht kamen die Bomber, berichtet Pechan. Und so wurden der Junge und seine Familie - Johannes war das siebente von 13 Kindern - in weniger umkämpfte Gebiete verschickt. Seine Odyssee dauerte bis Kriegsende.

Johannes hat mit seinem jüngeren Bruder Paul die „Kinderlandverschickung“ angetreten; die Stationen reichten über einen Ort im Spessart, Würzburg, Bad Kissingen, Bamberg und Erlangen. Die Jungen kamen in Hotels oder Turnhallen unter. Die Schrecknisse des Krieges blieben gegenwärtig; Pechan berichtet von einem abgeschossenen US-Flugzeug im Spessart, dessen Pilot tot in der Maschine hing. „Sein Kopf war vom Körper abgetrennt und nirgends zu sehen“, schreibt Pechan, „an einer Hand des Piloten konnten wir einen Ehering erkennen“.

Trotz aller Schrecknisse reagierten die Jungen auf den Krieg auch in Jungen-Manier: Die Welt im Ausnahmezustand war, so seltsam es klingen mag, auch ein bisschen Abenteuerspielplatz. Pechan berichtet, wie er Granatsplitter sammelte oder verbotenerweise Patronen aus jenem abgeschossenen Flugzeug im Spessart. Die Jungen zerlegten sie und sammelten das Pulver in Büchsen. Magnesium aus Leuchtspurmunition wurde auf mit Leim präparierte Eisendrähte geklebt - so entstanden Wunderkerzen. Aluminiumstreifen, die von den alliierten Bombern zur Störung der deutschen Luftaufklärung abgeworfen wurden, wurden von den Jugendlichen eingesammelt und zu Lametta verarbeitet.

In der Schlussphase des Krieges kam es noch zu dramatischen Szenen. In den Wirren der letzten Kriegstage war Johannes mit einem Bruder und seinem Vater in Erlangen von amerikanischen Soldaten gefangen genommen worden. Der Vater und zwei weitere Männer wurden an eine Wand gestellt - es sah nach einer standrechtlichen Erschießung aus. In diesem Moment erinnerte Johannes sich an sein Schulenglisch - er fragte einen der US-Soldaten: „Where are you from?“ Der Mann antwortete, wohl verblüfft, prompt mit „Chicago“. Der Bann war gebrochen, die Lage entspannte sich; „have you eggs“ lautete die nächste Frage des Amerikaners. Niemand wurde erschossen.

Der Weg zurück an den Niederrhein war verwickelt; die Familie kam nach und nach wieder zurück nach Serm. Dies zu lesen gehört zu den anrührendsten Passagen des Berichts. Die unwahrscheinlichste Ankunft betraf den Bruder Robert; er galt aus Kriegstagen als vermisst in Russland. Das war in vielen Fällen mit einer Todesnachricht gleichzusetzen - nur die Mutter glaubte fest daran, dass ihr Sohn noch lebte. 1946, drei Jahre nach der Vermisstenmeldung, kam eine Karte vom russischen Roten Kreuz mit der Nachricht, dass Robert noch lebte. „Nach einigen Wochen stand Robert, zerlumpt, kahlgeschoren und mit von Hungerödemen geschwollenem Kopf und Beinen vor unserer Haustür.“ Eine gute Wendung nahm auch das Schicksal des schwer an der Wirbelsäule verwundeten Bruders Hermann. Er quälte sich jahrelang mit seiner Verletzung in Lazaretten, war gelähmt, musste in einer Gipsschale liegen, bis amerikanisches Penicillin ihn heilte.

Pechan sucht nach Klassenkameraden vom Fabritianum. Wer sich mit ihm in Verbindung setzen möchte, kann dies über die Schule tun. Ansprechpartner ist Thomas Tillmann.

(vo)
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