Trinkhallen im Ruhrgebiet Die soziale Haltestelle

Duisburg · Buden gehören zum Ruhrgebiet, doch immer mehr verschwinden. Das NRW-Kulturministerium hat die Trinkhallen kürzlich zum Kulturerbe ernannt. Was macht sie so besonders?

 Yvonne Scholz an der Trinkhalle Hermann in Duisburg.

Yvonne Scholz an der Trinkhalle Hermann in Duisburg.

Foto: Christoph Reichwein (crei)

Als „Trinkhallen-Hermann“ starb, erzählten sie es den Kunden erstmal nicht. Auch die Beerdigung mussten sie verheimlichen. „Die hätten uns sonst die Bude eingerannt“, sagt Yvonne Scholz. Es war Ende Dezember 2020, die Sieben-Tage-Inzidenz in Duisburg lag um die 200 herum, es durften nur wenige Menschen zu einer Beerdigung kommen. Auch Scholz ging nicht zum Friedhof – sie tat so, als wäre nichts gewesen. Sie machte ihre Schicht im Büdchen, quatsche mit den Kunden, hörte ihnen zu, gab Ratschläge. Nebenbei verkaufte sie Brötchen, Bier und Lachgummis. Die Trinkhalle Lange in Duisburg-Meiderich gehört wie alle Buden im Ruhrgebiet seit vergangener Woche offiziell zum Kulturerbe des Landes NRW.

„Bei uns kauft jeder ein“, sagt Scholz, „Professoren, Doktoren, aber auch der kleinste Mann.“ Als ein Kunde sein Feierabendbier holt, ermahnt sie ihm, seinem Hund genug Wasser zum Trinken zu bringen. „Bei der Hitze braucht er das“. Dei Trinkhalle sei eine kleine Beratungsstelle, sagt Scholz. Für die Hunde hat sie eine ausrangierte Gummibärchendose mit Wasser gefüllt und vor dem Kiosk gestellt. Ein Mann im Handwerker-Outfit kauft eine Packung Zigaretten, ein Fahrradfahrer mit neongelber Weste und Helm holt sein Paket ab. Scholz sagt, sie kenne die Leute hier besser als in ihrer eigenen Nachbarschaft.

„Trinkhallen stellen Orte der Integration und des Austausches dar“, hieß es vom NRW-Kulturministerium bei der Aufnahme  Aufnahme der Büdchen ins immaterielle Kulturerbe des Landes. Am vergangenen Mittwoch gab es im Düsseldorfer Landtag eine Auszeichnung, auch das Steigerlied wurde dabei geehrt. Zwölf Einträge hat damit die Liste des Landes, darunter auch die Martinstradition, der Rheinische Karneval und die Bolzplatzkultur.

Dass die Trinkhalle einen Platz auf dieser Liste bekommt, hat die Bochumerin Marie Enders angestoßen. Für ihre Masterarbeit hat die damalige Architekturstudentin 2020 ein Buch über die Trinkhallenkultur geschrieben. „Darum sind wir vor der gemischten Tüte alle gleich“, heißt das erste Kapitel. Mehr als 150 Seiten der Arbeit widmen sich einer Bewerbung für die Trinkhallen als Kulturerbe. Sie nennt die Bude „eine soziale Haltestelle im Revier.“ Dafür gewann Enders einen Preis vom Bund Deutscher Architekten und den dritten Platz in einem europäischen Architektur-Wettbewerb. Auch das NRW-Kulturministerium war überzeugt.

Yvonne Scholz hat von der Ehrung im Landtag nichts mitbekommen. Als man ihr das erzählt, sagt sie, sie finde das toll. Aber überrascht wirkt sie nicht. Die 64-Jährige arbeitet seit 20 Jahren bei der Trinkhalle Lange. Immer noch kommt sie manchmal eine gute halbe Stunde früher zur Arbeit, weil es ihr so viel Spaß macht. Sie braucht keine offizielle Bestätigung vom Kulturministerium, um zu wissen, dass das Büdchen ein besonderer Ort ist.

Es kommen zwei Mädchen vorbei, nicht älter als zehn, barfuß, ihre Flip-Flops halten sie in den Händen. In geschäftlichem Ton sagt eine von ihnen die Bestellung auf: „Drei Magnum-Mandel, ein Kratzeis und so viel Wassereis wie es geht für zehn Euro.“ Bevor sie die Frage stellt, welche Wassereis-Sorten es denn gibt, kramt Scholz schon im Gefrierfach und kommt zurück mit der Auswahl. Das Kratzeis kostet 60 Cent, das Wassereis 15 Cent. Man bekommt in der Trinkhalle Lange auch Brötchen, Wasser, es gibt sogar noch Lachgummis für zwei Cent das Stück. Ein Kaffee kostet 90 Cent. Ganz schön günstig, oder? „Finde ich nicht“, sagt Scholz. Es sei eher ein angemessener Preis.

Doch die Büdchen sterben aus, schon seit Jahrzehnten. 2000 Kioske hätten von 2008 bis 2018 in Deutschland geschlossen, heißt es vom Handelsverband Deutschland (HDE). 2018 zählte der Verband nur noch 23.500 Büdchen deutschlandweit. Wie viele es in NRW aktuell sind, kann der HDE nicht sagen. Wer durch Duisburg spaziert, sieht einige, die anscheinend schon seit Monaten nicht mehr geöffnet wurden. Ein Mann, der das Treppenhaus gegenüber einer Trinkhalle putzt, schaut sehnsüchtig auf die Bude. „Die war schon bestimmt seit einem halben Jahr nicht mehr auf“, sagt er. Früher habe er dort

Marie Enders hat ihre Arbeit über die Büdchen geschrieben, um sie vor dieser Entwicklung zu retten. Mit der Aufnahme in die Liste des immateriellen Kulturerbes geht für das Land auch die Verpflichtung einher, dieses Erbe zu erhalten und zu pflegen. Solche Bestrebungen gab es bei den Trinkhallen aber auch schon vorher, etwa beim Tag der Trinkhallen. 2016 fand er zum ersten Mal statt, 2018 gab es eine Wiederholung. An vielen Büdchen im Ruhrgebiet gab es dann kleine Feste mit Live-Musik, Kabarett oder Poetry-Slam. Organisiert hatte das die Ruhr Tourismus GmbH, die die Region an Touristen vermarkten will. Das Kulturministerium förderte das Projekt. 2020 fiel die Veranstaltung aber aus, auch für 2021 gibt es schon eine Absage. Enders schreibt mittlerweile eine Doktorarbeit über die Buden.

Bei der Trinkhalle Lange machen sie sich erstmal keine Sorgen ums Überleben. Ja, die Corona-Zeit war schwer, aber die Kunden blieben ihrer Bude treu. An der Fensterscheibe des Kiosks steht noch ein Foto von „Trinkhallen-Hermann“ und seiner Frau Lange. Er, grauer Schnauzer, breites Lächeln, umarmt mit der linken Hand seine Frau, zwischen seinen Fingern noch eine halb angerauchte Zigarette. Für die älteren Kunden schleppte er Mineralwasser bis an die Tür, auch wenn er selbst nicht mehr der Jüngste war. Seine Ehefrau Ingrid kümmert sich mit 78 noch um den Kiosk, ihr Sohn führt das Geschäft. „Die Trinkhallen gehören einfach zum Ruhrgebiet“, sagt Yvonne Scholz. Und die Trinkhalle Lange gehört einfach zu Duisburg-Meiderich.

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