Tanzpremiere in Wuppertal Glücksritter und Stuhlstapler im Sturm der Zeiten

Das Stück „Schlafende Frau“ von Rainer Behr erlebt seine Uraufführung im Tanztheater Wuppertal Pina Bausch. Der Abend bietet einige heitere Momente.

 Szene aus der Aufführung von „Schlafende Frau“.

Szene aus der Aufführung von „Schlafende Frau“.

Foto: Evangelos Rodoulis/Evangelos_Rodoulis

Mitten im Lockdown begannen die Proben zu „Schlafende Frau“, die Premiere wurde mehrfach verschoben. Kein Wunder also, dass sich die Folgen von Corona für den Menschen in dem neuen Stück des Tanztheaters Wuppertal Pina Bausch widerspiegeln: psychische Störungen durch Vereinzelung, Armut, Technik-Wahn, Zukunftssorgen, Angst vor der Apokalypse. Es sind nicht gerade heitere Szenen, die Rainer Behr hier auf zweieinhalb Stunden (inklusive Pause) ausbreitet.

 Der langjährige Protagonist des Tanztheaters hat zum ersten Mal ein Stück für und mit dem Wuppertaler Ensemble kreiert. Herausgekommen ist ein Abend, der sich unverkennbar an Pina Bauschs Werk orientiert. Kleinere Spielszenen wechseln sich mit Soli ab, deren Formensprache sich teils erfrischend von der großen Mentorin abhebt und den meist jungen Tänzerinnen und Tänzern Raum gibt, sich zu entfalten. Nur Nazareth Panadero und Julie Anne Stanzak, langjährige Ensemblemitglieder, wirken wie Konstanten im Sturm der wechselnden Zeiten.

 Behr versammelt Sinnsucher und Glücksritter, Müllsammler, Eigenbrötler, Gestrandete, Wutbürger, Stuhlstapler, Boxchampions und Karrierefrauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die titelgebende „Schlafende Frau“ ruht auf einer Liege, während ein Mann (Andrey Berezin) in einer Art Werkstatt, abgeschottet von der Außenwelt, vor sich hinbrütet und über Zeit und Erinnerung sinniert. Wie zufällig ergibt sich die singuläre Bewegung seines Arms, auf die dann der ganze Körper folgt und sich so ein erster Tanz herausschält. Häufig findet man in den folgenden Soli dieses Ablösen einzelner Gliedmaßen, so als würde der Körper als Ganzes nicht mehr zusammenpassen – dysfunktional nicht nur der Geist, abgelöst von der Realität.

 Über eine VR-Brille findet Emma Barrowman in ihr erstes Solo, eines von vielen energiegeladenen Tänzen an diesem Abend. Erst im Verlauf kommt es zu Ensembletänzen und schönen Pas de Deux. Jonathan Frederickson und Stephanie Troyak bilden eine sich umwindende Einheit – schade, dass beide Ausnahme-Tänzer bereits nicht mehr zum Ensemble gehören und nur noch als Gäste auftreten.

 In dem nackten Bühnenraum (Raum- und Licht-Konzept: Michael Simon) blickt ein Phantom der Oper mit Gasmaske in einen Abgrund, in dem Nebelschwaden kaskadenhaft entschwinden. Doch diese Szene muss als Filmprojektion gezeigt werden: Seit der Hochwasserkatastrophe am 14. Juli 2021 funktioniert die Unterbühne des Wuppertaler Opernhauses nicht mehr. Zuvor hatte Rainer Behr „Schlafende Frau“ als Film produzieren lassen – Glück im Unglück.

 Anhand von mobilen Scheinwerfer-Säulen und Requisiten verwandelt sich die offene Bühne schnell in neue Räume. Dazwischen schwebt eine Kugel aus mehreren Scheinwerfern wie suchend herab: ein beeindruckendes Raumschiff, das für das Fremde steht und für die Zukunftsangst, die hier aus jeder Szene atmet.

Es gibt aber einige witzige Momente. Etwa die Erzählung von Brett und Brenda, das mustergültige Ehepaar, das dank Isolation durchdreht und slapstickmäßig im „Madhouse“ landet, Gefangene im eigenen Zuhause. Der zweite Teil des Abend gelingt sehr dicht, dem ersten hätten wahrscheinlich ein paar Striche gut getan.

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