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Russische Propaganda Die Schwester der Lüge

Düsseldorf · Propaganda als Rolle rückwärts: Anstatt dem Volk Zukunftsvisionen einzuflüstern, verbiegt Putins Nazi-Narrativ die Geschichte. Ein bizarrer Versuch, einen verbrecherischen Krieg zu rechtfertigen.

 Vladimir Putin besuchte 2012 zusammen mit dem damaligen israelischen Präsidenten Shimon Peres das Denkmal in Netanya, das an die Befreiung der Konzentrationslager der Nazis durch die Rote Armee erinnert.

Vladimir Putin besuchte 2012 zusammen mit dem damaligen israelischen Präsidenten Shimon Peres das Denkmal in Netanya, das an die Befreiung der Konzentrationslager der Nazis durch die Rote Armee erinnert.

Foto: picture alliance / dpa/Alexey Druzhinyn /ria Novosti / Kremlin Pool

„Ukrainischer Nazismus stellt eine viel größere Gefahr für die Welt und Russland dar als die Hitler-Version des deutschen Nazismus.“ Dieser Satz war tatsächlich auf der Website von Ria Novosti, der staatlichen russischen Nachrichtenagentur, zu lesen. Die massakrierten Zivilisten in Butscha? Für das russische Staatsfernsehen das Werk von „ukrainischen Nazis“. Die Trümmerwüste von Mariupol? Auch dafür macht der Kreml „ukrainische Nazis“ verantwortlich. Nun war der russischen Propaganda noch nie eine Lüge zu fett. Neu ist der bizarre Versuch, sich der Geschichte zu bemächtigen und den vermeintlichen Kampf gegen Nazis als das ultimativ Böse zur Rechtfertigung eines in Wahrheit verbrecherischen Angriffskrieges zu missbrauchen.

„Propagandamaschinen sind gewiss nichts Neues“, schrieb die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz unlängst in einem Gastbeitrag für die „Zeit“. „Doch es scheint, dass wir in Sachen Beherrschung des Bewusstseins einen Sprung in eine qualitativ neue Ordnung gemacht haben.“ Propaganda habe einst darauf abgezielt, den Menschen neue Überzeugungen einzuflüstern, neue Seinsordnungen für Gesellschaften zu erfinden, ihnen den Glauben an etwas zu vermitteln, wovon sie noch nie etwas gehört hatten – um sie beispielsweise zum Kommunismus zu erziehen. In Putins absurd rückwärtsgewandtem Narrativ aber geht es nicht um Zukunft. Vielmehr sollen damit aus Tätern Opfer werden.

Propaganda als Rolle rückwärts: Die Anhänger des russischen Präsidenten scheuen nicht davor zurück, sich öffentlich mit einem Judenstern auf der Kleidung zu präsentieren. „Die Russen sind die neuen Juden für euch“, heißt es in dem Song „No entry: Russians and dogs“ der russischen Band „Leningrad“. So abstrus der Vergleich auch ist – er verfehlt seine Wirkung nicht: Der überwiegende Teil der russischen Bevölkerung glaubt solchen Unsinn. Obwohl gerade die Russen unter dem Vernichtungswillen der Nazis grausam gelitten haben.

Ihr Volk als Opfer feindlicher Mächte zu stilisieren, war schon immer ein probates Mittel von Autokraten, um damit ihre Macht zu zementieren. Auch in Deutschland gab es in jüngster Zeit Beispiele für den Versuch, eine vermeintliche soziale oder politische Benachteiligung durch unangemessene Anspielungen auf historische Ereignisse zu unterstreichen: So wurde eine „Querdenkerin“ als Jana aus Kassel bekannt, weil sie auf einer Demonstration gegen Corona-Maßnahmen erklärte: „Ich fühle mich wie Sophie Scholl, da ich seit Monaten aktiv im Widerstand bin.“ Bereits 2017 hatte der AfD-Kreisverband Nürnberg-Süd/Schwabach ein virtuelles Wahlplakat mit der Aufschrift gestaltet: „Sophie Scholl würde AfD wählen“.

Der Begriff Propaganda stand einst für die Bedeutung revolutionärer Ideen. 1790 hatte sich in Paris der „Club de la propagande“ der Jakobiner gegründet. Heute wird Propaganda in der Regel mit diktatorischen Regimen verbunden und ist entsprechend negativ konnotiert. Wer die Ergebnisse von nationalsozialistischer, stalinistischer oder kommunistischer Propaganda besichtigt, weiß um die furchtbaren Folgen. Wenn Öffentlichkeitsarbeit und Werbung nur eine Seite der Wahrheit verbreiten, dann erscheint politische Propaganda mal als kleine, mal als große Schwester der Lüge.

Ein „Fantasiegebilde oder eine Verschwörung, an der wir beteiligt sind, die Verschwörung unserer eigenen Selbsttäuschung“, nannte der britische Professor für deutsche Geschichte im Kalten Krieg, Nicholas J. O‘Shaughnessy, die Propaganda. Ihr liegt die große und einzigartige Fähigkeit des Menschen zugrunde, mit bloßen Worten eine Wirklichkeit zu erschaffen, an die Tausende, Hunderttausende, ja Millionen glauben, obwohl es sich bloß um Mythen handelt. Der menschliche Zusammenhalt basiert auf solchen Mythen, auf künstlichen Wirklichkeiten – Religionen, Verfassungen, Nationen. Diese Mythen sind nicht nur der Schlüssel für die effektive Zusammenarbeit riesiger Gruppen, sondern auch für deren extreme Flexibilität.

Während selbst hoch entwickelte Lebewesen nicht in der Lage sind, ihr Gruppenverhalten völlig umzukrempeln, weil es genetisch vorherbestimmt ist, schaffen es Mythen, menschliche Gemeinschaften innerhalb kürzester Zeit gänzlich neu zu polen. „Im Jahr 1789 schalteten die Franzosen beispielsweise quasi über Nacht vom Mythos des Gottesgnadentums der Könige auf den Mythos der Herrschaft des Volkes um“, schreibt der israelische Historiker Yuval Noah Harari in seinem Buch „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. Durch diese Fähigkeit habe der Homo sapiens auf die Überholspur der kulturellen Evolution wechseln und am Stau der genetischen Evolution vorbeirasen können.

Ungebremst kann Propaganda ihre vernichtende Wucht freilich nur dort entfalten, wo keine freie Presse existiert. Der Wert unabhängiger Medien wird dort erkennbar, wo sie fehlen: in Russland.

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