Geigerin Anne-Sophie Mutter „Politiker sollten miteinander musizieren“

Interview | Düsseldorf · Die weltberühmte Geigerin spricht im Interview über aufopferungsvolle Mütter, den Krieg in der Ukraine, ihre Corona-Infektion – und ihr musikalisches Verlobungsgeschenk.

 Die Geigerin Anne-Sophie Mutter.

Die Geigerin Anne-Sophie Mutter.

Foto: Bartek Barczyk/DGG

Liebe Frau Mutter, wo sitzen Sie gerade, wo stehen Sie, wo liegen Sie?

Mutter Ich bin gerade nach einem sehr umfangreichen Arbeitstag in mein Münchner Haus gekommen, werde noch etwas üben und heute Abend ins Konzert im Münchner Herkulessaal gehen. Dazu habe ich mich spontan entschlossen.

Was gibt’s? Wer spielt?

Mutter Die italienische Pianistin Beatrice Rana, die ich noch nicht kenne. Sie spielt das Konzert von Clara Schumann mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Yannick Nézet-Séguin.

Ah, Sie Glückliche, Beatrice Rana ist großartig. Von der habe ich etliche Aufnahmen. Da werden Sie Freude haben.

Mutter Na wunderbar, dass Sie das sagen. Da freu ich mich jetzt doppelt.

Und was werden Sie üben? Ich nehme an, ein Stück, das Ihnen gewidmet ist und das Sie bald spielen werden?

Mutter So ist es: das Violinkonzert von André Previn, meinem früheren, 2019 leider verstorbenen Ehemann. Das spiele ich auch in Düsseldorf auf der aktuellen Tournee.

Das Werk hat einen sensationellen Anfang, es beginnt auf der tiefen G-Saite, um sich nach wenigen Tönen in die Höhe zu schrauben und im ewigen Schnee zu landen – höher geht’s kaum noch. Hat Previn Sie gefragt, ob er das machen kann?

Mutter Erstens: Sie haben gut zugehört. Es beginnt auf dem Gis, also einen Halbton über dem tiefsten Ton, und es endet in der Höhe auf dem G, also auf dem höchsten Ton, am Ende des Griffbretts, am Ende der Fahnenstange. Zweitens: Ich habe mich keine Sekunde in die Komposition eingemischt. Und er hat mich auch nicht gefragt. Ich habe ihm gesagt, dass ich technisch wahrscheinlich alles spielen kann, er soll einfach mal schreiben.

Er hat wirklich nie gefragt?

Mutter Nein, er sollte das Gefühl haben, alles schreiben zu können, was er wollte. So wie er es sich erträumt hat. Es war ja sein Verlobungsgeschenk an mich. Gewiss hatte er mich und meinen Klang im Ohr, aber das war es auch.

Sie haben das Stück früher häufig gespielt, aber in letzter Zeit nicht. Gibt es da Stellen, bei denen Sie beim erneuten Üben zu dem Gedanken kommen: Da hat er mich als Geigerin komplett verstanden oder da hat er mich besonders liebgehabt? Immerhin heißt die Komposition im Untertitel „Anne-Sophie“.

Mutter Es ist sicher ein in hohem Maße autobiografisches Werk. Und am Schlusssatz hat er im Jahr 2001 auf einer Zugfahrt in Deutschland weitergeschrieben, in dem Land, aus dem André Previn stammt …

… geboren 1929 in Berlin als Andreas Ludwig Priwin, der dann mit der Familie 1938 vor den Nazis fliehen musste …

Mutter … und in dessen Hauptstadt er erst sehr viel später sein Elternhaus wiedersah. Da gibt es im dritten Satz ein Zitat eines Gedichts von T.S. Eliot, das genau darauf hinweist. Übersetzt heißt das: „Und am Ende all unserer Forschungen werden wir wieder dort stehen, wo wir anfingen – und werden diesen Ort zum ersten Mal erkennen."

War Previn literarisch interessiert?

Mutter Und wie! Er war auch mit Deutschland sehr verknüpft, er hat deutsche Kunst geliebt, etwa George Grosz oder Otto Dix, er hat perfekt Deutsch gesprochen, und er war wirklich in der deutschen Sprache beheimatet. Ob es Heinrich Böll oder Thomas Mann war, er kannte sehr viel. Übrigens hat er im Schlusssatz sein Lieblingskinderlied verarbeitet, „Wenn ich ein Vöglein wär“. Als er mir die Partitur präsentierte, war ich sehr ergriffen, weil das nämlich auch mein Lieblingskinderlied war.

Wusste er das?

Mutter Nein, umso mehr hat es mich berührt. Es hat ja einen herzzerreißend schönen Text, und einen sehr traurigen dazu.

Ist es in diesen Tagen schwierig, sich aufs Üben zu konzentrieren? Wie nahe ist der Krieg für Sie?

Mutter Ich habe kurz nach Kriegsausbruch mein erstes Benefiz-Konzert für die Ukraine gegeben, und zuvor habe ich mit meinem Quartett beim Deutschen Roten Kreuz gespielt, und dort hat man mir gesagt, dass es derzeit weltweit mindestens 200 Kriege gibt. Das soll in keiner Weise diesen schrecklichen Überfall auf die Ukraine und diesen mörderischen Krieg relativieren. Aber wir Musiker spielen dagegen an, wir versuchen Gemeinschaft zu schaffen, wie versuchen Hoffnung zu spenden. Und wir sammeln Geld.

Hätten Sie momentan ein Problem damit, das Violinkonzert von Peter Tschaikowski zu spielen?

Mutter Überhaupt nicht. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Man muss ja trennen zwischen der Diktatur, die diesen Krieg will, und der russischen Bevölkerung, die ihn gewiss nicht will. Man muss trennen zwischen regimehysterischen Fanatikern, die Putin als ihren Freund betrachtet haben und es noch tun, und denen, die zufälligerweise in Russland geboren wurden. Und was die russischen Künstler dieser Tage betrifft, über die viel geredet wird: Würden wir wirklich unsere Stimme erheben, wenn wir wüssten, dass wir dafür 15 Jahre hinter Gitter müssten? Dass man selbst ein Held sei, lässt sich aus dem bequemen Sessel immer sagen.

Was lernen wir?

Mutter Wir müssen uns bewusst sein, welch ein Privileg ein freiheitlich-demokratisch geführtes Leben ist und dass wir dafür mit ganzer Kraft und Leidenschaft kämpfen müssen. Wir müssen unser Wahlrecht nutzen, wir müssen uns informieren, wir müssen genau lesen und gut überlegen, wem wir vertrauen.

Könnte uns auch die Musik etwas lehren?

Mutter Politiker sollten miteinander musizieren, dann stünden wir in einem ganz anderen Dialog miteinander. Davon bin ich seit vielen Jahren felsenfest überzeugt. Erst wenn man auf Augenhöhe ist, merkt man, welche Gefühle der andere hat – und man akzeptiert leichter seine Meinungen und seine Rechte.

Unter den wirklich bekannten Politikern, die ein Instrument erstklassig beherrschen, fällt mir die ehemalige US-amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice ein, die mal Konzertpianistin werden wollte. Die hat sogar mit dem berühmten Cellisten Yo-Yo Ma gespielt. Davon gibt es ein Video.

Mutter Wusste ich nicht, schau ich mir mal an. Machen wir uns nichts vor: Wie wir aus der deutschen Vergangenheit wissen, ist Musik in keiner Weise dazu angetan, uns zu besseren Menschen zu machen. Aber sie ist eine Basis des gemeinsamen Erlebens und des kulturellen Austausches, der jenseits der Sprache auf einer ganz anderen Ebene funktioniert und ganz früh im Leben stattfindet – und stattfinden sollte. Stattdessen erleben wir, dass sich Kinder fast ausschließlich mit den Medien beschäftigen und über sie kommunizieren, über das sofortige Posten und Retweeten. Keiner lernt ja mehr, über etwas eine Nacht zu schlafen und nachzudenken.

Das ist aber das Wesentliche, wenn jemand musikalisch vorankommen möchte.

Mutter Sie sagen es, es ist unentbehrlich für das Studieren einer musikalischen Partitur. Die Erkenntnisse kommen auch nicht sofort, die muss man sich mühsam erarbeiten. Alles, was leicht kommt im Leben, ist eigentlich wertlos.

Ich habe irgendwo gelesen, dass Sie sich liebevoll um den Wiederaufbau einer historischen Orgel in einem Dorf namens Aurach bei Kitzbühel gekümmert haben. Wie kamen Sie denn dazu? Orgel ist doch gar nicht Ihre Baustelle.

Mutter Es gibt hier in München den wunderbaren Organisten von St. Michael, den Peter Kofler, den ich gut kenne. Der hat eine Orgel der Firma Mauracher von 1840 nach mehrjähriger Restaurierung in Aurach eingeweiht. Die ist musikhistorisch bedeutend, ein Juwel. Die Orgelbaufirma Klais aus Bonn hat sie wieder spiel- und hörbar gemacht. Ich habe drei Benefizkonzerte gespielt und insgesamt 350.000 Euro gesammelt.

Donnerwetter. Lieben Sie denn Orgel?

Mutter. Ja. Immer habe ich schon gedacht: Die Pfarrer kommen und gehen, die Orgel bleibt. Und was hält mich in der Kirche? Die Musik. Wenn da ein guter Organist sitzt, ist es ein Geschenk. Dann kann man auch nach oben schauen und an das Gute glauben.

Sie waren, was viele nicht wissen, einer der frühen deutschen Corona-Fälle, im März 2020. Wie blicken Sie von heute auf die Infektion von damals zurück?

Mutter Damals wusste man noch ganz wenig über die Krankheitsverläufe, und da hat mir mein älterer Bruder sehr geholfen, der international sehr vernetzt ist und sich etliche Informationen besorgt hat, was wichtig zu wissen ist. Und man wusste, dass Tag zehn im Verlauf einer Infektion entscheidend ist: Entweder es geht richtig abwärts oder langsam wieder aufwärts. Ich habe mich bemüht, da nicht allzu dramatisch drüber nachzudenken.

Aber Sie hatten doch Symptome, oder nicht?

Mutter Na ja, ich hatte etwas Luftnot, aber ansonsten konnte ich mich nicht beklagen. Das Positive war: Ich habe wie ein Bär geschlafen. Ich habe zehn Nächte hintereinander so gut geschlafen wie in meiner Kindheit nicht mehr.

Und Ihr zehnter Tag?

Mutter Als bei mir am elften Tag meine berühmte Schlaflosigkeit einsetzte, da wusste ich, dass der nächste Corona-Test negativ sein würde. Und so war es dann auch.

Leiden Sie tatsächlich unter Schlaflosigkeit?

Mutter Manchmal schon. Ich neige zur Hyperaktivität, man bekommt mich einfach nicht müde. Ich hab’s mir nicht ausgesucht.

Und dann? Tigern Sie durchs Haus?

Mutter Nein, ich übe im Kopf. Momentan gehe ich gedanklich durch Passagen in Previns Violinkonzert – und irgendwann schlafe ich dann doch ein.

Das ist ja ein faszinierendes Phänomen, das wir aus den Neurowissenschaften kennen: Sie können eine Passage eines musikalischen Werkes üben, indem Sie sich geistig vorstellen, dass Sie es spielen. Im Gehirn ist dann nämlich auch das Hand-Areal aktiv, auch wenn Sie Ihre Hände gar nicht bewegen.

Mutter Ja, das machen wir Profimusiker wie Athleten, die sich ihre Abläufe auch immer wieder im Gehirn vorstellen. Rennfahrer fahren im Kopf durch die Kurven, Tennisspieler üben im Kopf den Aufschlag. Das ist ein phänomenales Werkzeug, das viele leider gar nicht einsetzen. Ich mache das schon seit meiner Kindheit.

Nennt man „mentales Training“.

Mutter Ja genau. Und später ging es ja auch gar nicht anders, als alleinerziehende Mutter hatte ich gar keine andere Wahl. Wie hätte es mit dem Üben sonst gehen sollen, wenn man ansonsten Windeln wechselt oder selbst auf der Toilette sitzt? Irgendwie muss man ja die Werke durchgehen und sich draufschaffen.

Mütter haben da vermutlich ein besonderes Energie-Gen, sonst würde das gar nicht gelingen.

Mutter Ja, ich bewundere alle Frauen, die einen Beruf haben und Kinder erziehen. Ich war superprivilegiert und hatte viel Hilfe. Trotzdem war’s schwer. Die Gesellschaft weiß gar nicht, was Mütter leisten. Das hat man bei Corona mit Homeoffice ja eindrucksvoll gesehen.

Da kann ich ja zum Abschluss den Kalauer riskieren und fragen: Was ist am Sonntag bei Anne-Sophie Mutter los, wenn Muttertag ist?

Mutter (lacht) Ich erwarte, gefeiert zu werden.

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