Rachel Salamander mit Heine-Preis geehrt „Wir Juden sind heute in der Defensive"

Düsseldorf · Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hielt in Düsseldorf die Laudatio auf die Trägerin des Heine-Preises 2020, die Publizistin Rachel Salamander. Deren Antwort endete tief pessimistisch.

 Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r.) und Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller applaudieren im Düsseldorfer Schauspielhaus der Heine-Preisträgerin Rachel Salamander.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (r.) und Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller applaudieren im Düsseldorfer Schauspielhaus der Heine-Preisträgerin Rachel Salamander.

Foto: Endermann, Andreas (end)/Endermann

Angesichts des Schicksals der Preisträgerin war abzusehen, dass es bei der nachgeholten Verleihung des mit 50.000 Euro dotierten Heine-Preises 2020 nicht nur um Heine und auch nicht ausschließlich um Literatur gehen würde. Juden in Deutschland - das ist die große Geschichte jüdischer Kultur in diesem Land und zugleich die Gegenwart eines gewalttätig gewordenen Antisemitismus.

Drei Redner traten im Großen Haus des Schauspielhauses nacheinander ans Pult, alle zogen auf je eigene Weise einen Faden von Heine, dem Juden, der sich christlich taufen ließ, in unsere Zeit. Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller stellte die zahlreichen Bemühungen um ein gutes jüdisch-deutsches Miteinander in seiner Stadt nach der Barbarei des Nationalsozialismus in den Mittelpunkt: die gegen Antisemitismus ansingenden Toten Hosen, die Makkabi Deutschland Games, die jetzt jüdische und nichtjüdische Athletinnen und Athleten in Düsseldorf zusammenführen werden, und die Tatsache, dass das Heine-Institut die einzig erhaltene Handschrift von Heines „Loreley" hütet. Keller rühmte die Preisträgerin als eine Frau, die mit ihren „Literaturhandlungen" entscheidend dazu beigetragen habe, „dass jüdisches Leben wieder aufblühen konnte".

Bundespräsident Steinmeier tauchte tiefer in die Geschichte der Juden in Deutschland ein, stellte Rachel Salamander als diejenige heraus, die mit ihrem Ehemann Stephan Sattler den damals schon über 80-jährigen, aus Mönchengladbach stammenden jüdischen Philosophen Hans Jonas (1903 - 1993) dazu bewegte, seine Lebenerinnerungen zu erzählen und als Buch erscheinen zu lassen. „Schon allein dafür", so formulierte der Bundespräsident, „hätten Sie den Heine-Preis verdient." Jonas war 1933 vor den Nationalsozialisten geflohen und lehrte später als Professor in New York.

Steinmeier warf in seiner Laudatio einen Blick zurück auf Rachel Salamanders schwieriges Leben einer Jüdin, die 1949 in einem bayerischen Lager für Desplaced Persons zur Welt kam, für Personen, die den Holocaust überlebt hatten und nun im Land der Täter zurechtkommen mussten. Unumwunden zog er einen Bogen zur Gegenwart: „Heute erleben wir wieder Antisemitisms, auch als vordergründige Israel-Kritik verkappt. Wir haben die Pflicht zur Gegenwehr." Steinmeier dankte der Preisträgerin dafür, dass sie uns in ihrem kulturellen Engagement „die jüdische Welt von gestern" lebendig erhalten habe, die Welt Heines, Kafkas und zahlreicher weniger berühmter Schriftsteller und Philosophen: „Das ist unsere gemeinsame Heimat." Der letzte Satz seiner Rede lautete: „Wir ehren Sie noch viel mehr als mit dem Preis, wenn wir deutsch-jüdische Kultur als Teil unserer Gegenwart und Zukunft begreifen, wie Sie es uns vorleben."

Das klang hoffnungsfroh, ganz anders als der Schluss von Rachel Salamanders gelehrtem Gang durch das Verhältnis von Juden und Deutschen seit dem 19. Jahrhundert. „Nach Auschwitz", so hielt sie fest, „ist Antisemitismus ein anderer als zu Heines Zeiten. Jetzt trägt Antisemitismus immer auch Vernichtung in sich."

In den 80er Jahren, so führte sie weiter aus, seien die Nachkriegsdeutschen noch befangen gewesen. Schon zuvor hatte sie betont: „In der von Nichtjuden geschriebenen Literatur nach 1945 kommen Juden so gut wie nicht vor." Heute dagegen „sind wir Juden befangen. Wir sind in der Defensive". Sie sei, sagte Rachel Salamander, „offensichtlich zu gutgläubig gewesen – und zu lange geblieben". Denn anders als im 19. Jahrhundert zielt der Antisemitismus von heute nicht „nur" darauf, Juden gegenüber Nichtjuden gesellschaftlich zu benachteiligen, sondern er strebe die physische Vernichtung an.

Heinrich Heine gehört aus Rachel Salamanders Sicht zur ersten Generation, die das Ghetto verließ und dabei das jüdische Erbe mitnahm. Hannah Arendt bescheinigte ihm, dass er der einzige deutsche Jude sei, dem es glückte, zugleich Deutscher und Jude zu sein.

Heute schreibt zum Beispiel Maxim Biller diese Tradition fort: „Texte eines Juden über Jüdisches und jüdische Erfahrungen". Und „er bricht mit innerjüdischen Tabus genauso wie mit deutschem Aufarbeitungskitsch". Rachel Salamander hat auf die Nachkriegssituation mit der Gründung ihrer von München ausgehenden Literaturhandlungen geantwortet: ohne Bücher kein Judentum. Die Literaturhandlung mit ihren Veranstaltungen sei auch zum Modell im Umgang von Juden und Nichtjuden geworden. Dabei sei es immer darum gegangen: Wie wollen wir, nach allem unsere Zukunft miteinander gestalten?

„Wir haben das Buch bewahrt, und das Buch hat uns bewahrt", so zitierte Rachel Salamander David Ben-Gurion, den ersten Ministerpräsidenten Israels. Ein Funke Hoffnung bleibt.

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