WM-Taktik DFB-Elf voll im Trend – und trotzdem raus

Analyse | Doha · Torhüter als Feldspieler, seltsam wenig Pressing und wichtige Außen: Die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar zeigt überraschende Erkenntnisse bei Trends und Taktik.

Der mitspielende Torwart, wie hier Deutschlands Manuel Neuer, nimmt bei der WM eine wichtige Rolle ein.

Der mitspielende Torwart, wie hier Deutschlands Manuel Neuer, nimmt bei der WM eine wichtige Rolle ein.

Foto: dpa/Tom Weller

Die WM in Katar scheint wie gemacht für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft. Mitspielende Torhüter wie „Manu, der Libero“, starke Mittelfeldzentren wie jenes um „Boss“ Joshua Kimmich, dazu schnelle, trickreiche Außen im Stile eines Leroy Sane oder Serge Gnabry. Und wenn es trotzdem mal hakt, helfen die „Lückenfüller“ von der Bank – Niclas Füllkrug lässt grüßen.

Doch obwohl die DFB-Auswahl bei all diesen WM-Moden voll im Trend liegt, schaut sie nur zu, wenn die besten acht Teams der Welt ab Freitag den Titel ausspielen. Genau wie die hoch gelobten Spanier, deren allzu verschnörkelter Ballbesitzfußball längst nicht mehr der Stil der Stunde ist. Oder Deutschland-Schreck Japan, deren modernes Pressing letztlich ins Leere lief.

Die Analysten, darunter jene des DFB vor Ort, tun sich noch schwer mit abschließenden spieltaktischen Bewertungen. Doch nach 56 von 64 Spielen sind Trends erkennbar. Freie „Zehner“ sterben aus, dafür agieren Torhüter als Regisseure. „Das ist eine große Veränderung“, sagte Arsene Wenger, der für die Fifa WM-Spiele analysiert. Kollege Jürgen Klinsmann meinte: „Wir sehen, dass der Torhüter der Spielmacher Nummer eins ist. Er ist das Rückgrat der Mannschaft.“

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Meikel Schönweitz, als Cheftrainer U-Nationalmannschaften des DFB bis einschließlich der Achtelfinals in Katar, relativiert. „Bei den sogenannten kleineren Mannschaften, die erfolgreich waren, hat der Torhüter nicht extrem mitgespielt“, sagte er im SID-Gespräch.

Den Trend weg von den Standards, hin zu Toren über die Außen nennt er „auffällig“. Wenger ist „überzeugt, dass die Teams mit den besten Flügelspielern die größten Chancen auf den Titel haben“. Wie Weltmeister Frankreich. Für Ex-Bundestrainer Klinsmann stechen die Südamerikaner mit ihrer „Liebe für den Straßenfußball“ hervor.

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Pressing spielt dagegen eine untergeordnete Rolle. „Das findet eher situativ statt, zum Beispiel mit Blick auf ruhende Bälle“, erläuterte Schönweitz. Der 42-Jährige erkennt überdies eine wachsende Bedeutung einer Rolle, die er „Spielbeschleuniger“ nennt. Dynamik, Positionierung, Passqualität, der richtige Moment des Loslaufens - diese Qualitäten entscheiden Spiele.

Wenn das „letzte Drittel“ wie vernagelt scheint, müssen frische Impulse her – von der Bank. In Katar sind erstmals fünf, bei Verlängerung sogar sechs Wechsel möglich. Die Spielqualität steigt, doch weil oft bis zum Schluss wach verteidigt wird, gibt es weniger späte Tore – trotz längerer Nachspielzeit.

Nicht einmal viele Abschlüsse garantieren Treffer, das musste die DFB-Elf schmerzvoll erfahren. Sie kam auf die höchste Zahl „erwarteter Tore“ („expected Goals“, kurz xG), gewann aber nur ein Spiel - und lag seltsamerweise auch hier im Trend.

Von 38 Siegen in der Gruppenphase gingen immerhin zwölf auf das Konto der Mannschaften, die weniger oft schossen. Das galt auch für drei Achtelfinals. Nur bei der Hälfte der Spiele gewann das Team mit dem höheren xG-Wert – in der Bundesliga lag die Quote in einem vergleichbaren Zeitraum zuletzt bei 66,6 Prozent.

Aber WM- und Klubfußball zu vergleichen, sei ohnehin unmöglich, meinte Jesse Marsch. „Das“, sagte der Teammanager von Leeds United und frühere Leipzig-Coach, sind „fast zwei unterschiedliche Sportarten“.

(lonn/SID)
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