Analyse Italiens Zorn auf Deutschland

Düsseldorf · Dass die NS-Zeit für die Tagespolitik missbraucht wird, ist in der Euro-Krise alltäglich geworden. Aus Rom kommt jetzt eine neue Dimension der Polemik. Sie legt die Axt an die Wurzel der deutsch-italienischen Freundschaft.

 Das Buchcover "Il Quarto Reich" und die Titelseite der Zeitung "Il Giornale" aus dem Jahr 2012.

Das Buchcover "Il Quarto Reich" und die Titelseite der Zeitung "Il Giornale" aus dem Jahr 2012.

Foto: Verlag

Auf Gerhard Schröders Schreibtisch im Kanzleramt stand, so berichten Besucher, eine gerahmte Fotografie. Sie zeigte seinen Vater Fritz, der 1944 als Obergefreiter mit 32 Jahren in Rumänien fiel. Schröder hat seinen Vater nie kennengelernt. Die familiäre Tragik und die halböffentliche Erinnerung des Altkanzlers für die These in Dienst zu nehmen, Deutschland habe seine imperialen Ambitionen nie ganz abgelegt, sie kämen im 21. Jahrhundert vielmehr wieder richtig zum Vorschein - das darf man böswillig nennen. Wenn zwei bekannte italienische Journalisten das in einem Buch behaupten, das der größte Verlag des Landes herausbringt, lässt es sich aber nicht einfach abtun. Die traurige Wahrheit ist: Was aus Schröders Geschichte gemacht wird, zeigt, wie viel Gift sich zwischen Italien und Deutschland angereichert hat.

Die Journalisten, das sind Vittorio Feltri und Gennaro Sangiuliano, leitende Journalisten der konservativen Zeitung "Il Giornale", die Silvio Berlusconis Bruder Paolo herausgibt, und der Rai-Sendung "TG 1", einer Art italienischer "Tagesschau". Der Verlag, das ist Mondadori, Teil von Silvio Berlusconis Holding Fininvest. Ihr Buch "Das Vierte Reich. Wie Deutschland Europa unterworfen hat" versucht glaubhaft zu machen, Deutschland habe sich mittels des Euro systematisch eine hegemoniale Stellung auf dem Kontinent aufgebaut und raube vampirartig den Ländern des Südens ihre ökonomische Lebenskraft.

Ähnliches war schon aus Paris, Brüssel und Washington zu hören; richtiger wird es durch Wiederholung nicht. Feltri und Sangiuliano lenken speziell mit Blick auf Italien von dem Versäumnis ab, die eigene Industrie wettbewerbsfähig zu halten. Dass Rom vor allem in der Arbeitsmarktpolitik jahrzehntelang geschlafen hat, erklärt die italienische Malaise deutlich besser als eine Verschwörung im Bundeskanzleramt.

Eigentlich erschreckend aber ist Feltris und Sangiulianos Buch aus anderen Gründen: weil es von zwei einflussreichen Meinungsmachern geschrieben ist, weil es die Kellergeister der Geschichte heraufbeschwört und weil es auch noch mit bildungsbürgerlichem Gehabe daherkommt.

Deutsche und Italiener haben sich daran gewöhnt, dass die NS-Zeit populistischer Profilierung dient. Wie 2003, als Berlusconi im EU-Parlament den Sozialdemokraten und heutigen Parlamentspräsidenten Martin Schulz mit einem KZ-Aufseher verglich. Man hat sich gewöhnt an die Porträts der Kanzlerin mit Hakenkreuz. Man hat sich daran gewöhnt, dass Straße und Boulevard vom "Vierten Reich" faseln, gegen das es Widerstand zu leisten gelte, etwa mit einem Boykott deutscher Waren - was im Übrigen fatal an NS-Methoden erinnert.

Dass das Reichsgeraune aber auf mehr als 100 Seiten abgehandelt wird, mit Verweis auf Tacitus, Rousseau und Thomas Mann, das ist neu. Feltris und Sangiulianos Buch ist ein Gemenge aus NS-Besessenheit (Hitler erklärt alles, irgendwie), Politnostalgie (vor 1990 war alles besser) und Nationalismus (kastriert Brüssel!). Deutschlands Einhegung sei gescheitert, ist die Kernthese; Berlin offenbare "ein neues Streben nach Vorherrschaft" und setze diese Vorherrschaft mittels aggressiver Wirtschafts- und Finanzpolitik auch durch.

Immerhin, Krieg drohe nicht; auch der Begriff "Viertes Reich" sei "wahrscheinlich übertrieben". Aber: Der Euro entspreche für viele Europäer "den Panzerdivisionen von früher, als Mittel zur Eroberung eines wirtschaftlichen Herrschaftsgebiets". Deutschlands Sparpolitik verkörpere Seelenlosigkeit und formalistischen Rigorismus.

Wer so freihändig argumentiert, dem geht manche Wahrheit durch. Feltri und Sangiuliano machen den Soziologen Ulrich Beck zum Kronzeugen - der aber wollte mehr Europa, nicht weniger. Und der Bundesregierung gemeinsame Sache mit dem Bundesverfassungsgericht ("Klingt wie eine Waffengattung der Wehrmacht") bei der Ausplünderung der "lateinischen Völker" vorzuwerfen (sind die Griechen jetzt auch Lateiner?), ist absurd, denn nicht Angela Merkel suchte ihr Heil in Karlsruhe, sondern die Euro-Gegner. Der Reichsbegriff schließlich, heißt es blumig, sei "für die Deutschen das, was den Franzosen die Grandeur ist". Dass allein das Wort "Reich" hierzulande Abscheu auslöst - warum sich damit belasten, wenn sich so schön schwadronieren lässt? Von Mussolini und den Verbrechen der Faschisten ist ohnehin keine Rede. Es fällt schwer, in diesem Furor kein spätes Echo der politischen Verrohung unter Berlusconi zu hören.

"Die deutsch-italienischen Beziehungen befinden sich auf einem Tiefpunkt, sie sind aber noch nicht tiefgefroren", schrieb jüngst in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" Maria Gazzetti, Leiterin des Kulturzentrums "Casa di Goethe" in Rom. Andere sehen die Lage düsterer. Thomas Schlemmer zum Beispiel, Italien-Experte am Münchner Institut für Zeitgeschichte. Zwar bedienten mittlerweile fast alle Parteien antideutsche Klischees, sagt Schlemmer: "Jetzt in der Krise aber nimmt auch die gesellschaftliche Verständigung Schaden. Das Wohlstandsgefälle wächst, die Perspektivlosigkeit in Italien ist bestürzend." Viele Familien planten die Schulkarrieren ihrer Kinder heute mit dem Ziel Auswanderung. Bücher wie das "Vierte Reich" seien da gefährlich, "weil sie Sympathie, Wohlwollen und Verständnis nachhaltig beschädigen können". Schlemmers Prognose: Ohne robusten Aufschwung in Italien "wird eine weitere Verschlechterung des Verhältnisses kaum zu vermeiden sein".

Bleibt die Frage, wie wirksam das Gift der selbstgerechten Polemik ist. Mondadori gibt auf Nachfrage an, man habe bisher 20 000 Stück vom "Quarto Reich" verkauft - nicht eben ein fulminanter Erfolg. In den italienischen Top 100 tauchen Feltri und Sangiuliano gar nicht auf. Die Liste führt die komplette Softporno-Trilogie "50 Shades of Grey" an. Es gibt also noch Hoffnung.

(RP)
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