Präsident der Ukraine Selenskyj – der Churchill für den Krieg im Youtube-Zeitalter

Brüssel · Wie konnte ein Komiker erst zum Präsidenten und dann zum Kriegshelden werden? Eine Analyse seiner Reden an die Europäer, die Amerikaner, die Briten und die Deutschen zeigen das besondere Talent Wolodymyr Selenskyjs, Identifikation zu stiften - und die Ukrainer zum Durchhalten zu motivieren. Wie ein berühmtes Vorbild.

Wolodymyr Selenskyj: Präsident der Ukraine - vom Komiker zum Staatsmann
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Das ist Wolodymyr Selenskyj 

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Foto: dpa/Eric Lalmand

Wassilyj Petrowytsch Holoborodko hätte auch einfach eine schreiend komische Episode bleiben können. Die TV-Figur des ukrainischen Lehrers, der über die Korruption in seinem Land schimpft - und plötzlich Präsident ist. Nichts, was mit den realen Herausforderungen zu tun hat. Ähnlich jener Figur, die sich nach dem Karriere-Aus zum Malen und Schreiben aufs Land zurückzieht, über die Beschwichtigungspolitik seines Landes wettert und deshalb als alter Kriegstreiber abgehakt wird. Doch die Geschichte will es anders. Der Schauspieler und Komiker, der keine politischen Ambitionen zu haben scheint, wird tatsächlich Präsident der Ukraine: Wolodymyr Selenskyj. Der Maler und Kolumnist, der seine politische Karriere hinter sich zu haben scheint, ist plötzlich britischer Premier: Winston Churchill. Sie verbindet viel.

„Blut, Schweiß und Tränen“ sagt Churchill 1940 seinen Landsleuten voraus. Sie tapfer gegen den lockenden und lügenden Adolf Hitler und dessen rücksichtslosen Eroberungsfeldzug moralisch und mutig aufzustellen, ist die eine Seite seines unermüdlichen Eintretens von Downing Street 10 in London aus. Die andere ist es, den schlafenden Riesen USA dazu zu bringen, die vermeintlich verlorene Sache der bedrängten und unterlegenen Nationen zu unterstützen. Die Parallelen sind augenfällig. Auch Selenskyj hämmert seinem Volk jeden Tag ein, dass es die Hoffnung nicht aufgeben, weiter mutig den Aggressor abwehren soll. Und er unternimmt immer neue Versuche, die Unterstützung des Westens zu mobilisieren.

Krieg in der Ukraine 2022: Die Schreckensbilder aus Kiew
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Schreckensbilder aus Kiew

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Foto: AP/Vadim Ghirda

Mit Anzug, Fliege und erhobenem Zeigefinger tritt Churchill im Juni 1940 vor die Mikrofone. Es ist der seriöse Politiker seiner Zeit, der sich nur ausnahmsweise mal mit Stahlhelm ablichten lässt. Selensky indes trägt vom ersten Tag an das Militär-Shirt, sitzt mit Soldaten in Kampfmontur zusammen und beherrscht die Bildsprache des Youtube-Zeitalters. Den Aufnahmeantrag für die EU unterschreibt er hinter Sandsäcken. Und am Ende einer Videobotschaft schiebt er das Mikro lässig beiseite - und markiert damit den Anti-Putin. Zuvor war Russlands Präsident dabei erwischt worden, dass seine Video-Botschaft mit Stewardessen ein einziger Fake war - erkennbar an der Hand, die durchs virtuelle Mikro geht.

Und doch greift Selenskyj, der erfolgreiche Schauspieler, Komiker und Regisseur auf genau die Chiffren zurück, mit denen schon Churchill 82 Jahre zuvor zuerst die Stimmung und dann den Krieg gewann. Am 13. Tag des Krieges spricht der Ukrainer live zum britischen Parlament. Er will eingangs „über unsere 13 Tage erzählen“, schildert die schrecklichen Geschehnisse und bildet dabei eine Klammer: „Wir möchten unser Land nicht verlieren, so wie Sie Ihre Insel nicht verlieren wollten“, sagt er und greift nach fünf Minuten zum berühmten Shakespeare-Spruch: „To be or not to be.“ Jetzt gehe es darum, ob die Ukraine frei sein werde oder nicht. Ohne Churchill beim Namen zu nennen, wiederholt er dessen Ankündigung vom Sommer 1940 wortwörtlich: „Wir gehen bis zum Ende, wir werden kämpfen, zur See, in der Luft, wir werden in den Wäldern kämpfen, in den Dörfern, in den Städten, wir werden überall kämpfen.“ Jeder Brite kennt die Sätze oder hat sie in der Schule gehört. „Sie sind jetzt wieder aktuell“, sagt Selenskyj.

Es ist sein dritter, stark beachteter Video-Appell, der direkt in die Entscheidungskammern der westlichen Demokratien übertragen wird. Der erste erfolgte gleich am Tag eins des Krieges, als die Staats- und Regierungschefs bei Sondergipfel in Brüssel eher mäßige EU-Sanktionen beschlossen hatten, sich von Selenskyjs nächtlicher Botschaft jedoch so überzeugt fühlten, dass sie ihr Paket gleich nachschärften. Zu diesem Zeitpunkt ging noch jeder davon aus, dass die Truppen Putins das weit unterlegene Land schnell entwaffnen würden. Deshalb schloss Selenskyj dem Vernehmen nach in der vertraulichen Sitzung mit der düsteren Feststellung, es könne sein, dass man ihn zum letzten Mal lebend gesehen habe.

Doch er hatte sich entschieden. So wie er als Noch-Nicht-Staatsmann bereits Ende 2018 jeden Verdacht von sich wies, ein unerfahrener Strohmann für einen einflussreichen Medienmogul zu werden, und dabei die Worte verwendete: „Derjenige, der mich kontrollieren will, ist noch nicht geboren.“ Selenskyj beherrscht diese Prägnanz auch im Angesicht des drohenden Todes. Während Spezialkräfte im Auftrag Putins einen Mordanschlag nach dem anderen gegen ihn auszuführen versuchen, schlägt er das dringende Angebot der USA, ihn im Ausland mit einer Exilregierung in Sicherheit zu bringen, mit den Worten öffentlich auf: „Ich brauche keine Mitfahrgelegenheit, ich brauche Munition.“

Da hat er an Tag sechs des Krieges auch bereits vor dem Europa-Parlament gesprochen und gezeigt, dass er keine Standard-Appelle abliefert, sondern perfekt auf Situation und Zuhörer abgestellte Botschaften, die stets prägnante Wirkung auch dadurch entfachen, dass sie nur zwischen sieben und elf Minuten dauern. Emotional aufgewühlt berichtet er mit brüchiger Stimme von den Marschflugkörpern auf den Platz der Freiheit von Charkiw, jener Universitätsstadt in der ukrainisch-russischen Grenzregion, wo junge Menschen beider Länder sonst zusammen feierten. „Wir kämpfen für unsere Freiheit, wir kämpfen um unser Leben. Aber wir kämpfen auch dafür, dass wir gleichberechtigte Mitglieder Europas werden“, fasst Selenskyj zusammen. Mancher EU-Politiker hat da einen Kloß im Hals. Und er wird noch deutlicher: Die Ukrainer zeigten gerade, dass sie Europäer seien, nun müsse die EU zeigen, dass sie an der Seite der Ukraine stehe. Und jeder versteht, wenn er voraussagt: „Die Europäische Union wird sehr viel stärker mit uns sein.“

Völlig anders, aber mit ähnlicher Treffsicherheit seine Rede zum US-Kongress am 21. Kriegstag. Bereits nach drei Minuten beschwört er die Gefühle der Amerikaner beim Angriff auf Pearl Harbor 1941 und bei den Attacken am 11. September 2001, „als das Böse versuchte, Ihre Städte und unabhängigen Gebiete in Schlachtfelder zu verwandeln“ - genau das, so Selenkyj weiter, erlebe die Ukraine jetzt auch, und zwar jeden Tag, jede Nacht, seit drei Wochen. Nach fünf Minuten greift er zu der Redewendung, die seit Martin Luther King keinen Amerikaner kalt lässt: „Ich habe einen Traum“ - übersetzt in den aktuellen Bedarf der Ukrainer bittet Selenskyj die Amerikaner um ihre Unterstützung. Und er wirbt für eine 24er-Inititiative, in der sich Staaten der Welt zusammenfinden, um binnen 24 Stunden jedem zu helfen, der es dringend braucht. Heute der Ukraine, morgen vielleicht einer von einer Naturkatastrophe getroffenen Nation.

Ukrainischer Präsident Selenskyj spricht im Bundestag
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Ukrainischer Präsident Selenskyj spricht im Bundestag

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Foto: dpa/Bernd von Jutrczenka

Am Tag drauf ist der Bundestag Gastgeber für einen weiteren großen Video-Auftritt Selenskyjs. Am Ort der Berliner Mauer beschwört er das Bild einer neu entstandenen Mauer. Einer zwischen denen, die Hilfe brauchen und jenen, die diese Hilfe geben könnten. Selenskyj weiß, dass die Verzögerung bei den Swift-Sanktionen auf das Konto der Deutschen ging, dass sie anfangs keine Waffen liefern wollten und nun jede weitere Eskalation fürchten. Zwar bedankt er sich auch bei den Deutschen, aber es ist nicht so persönlich, wie bei Joe Biden und Boris Johnson. Nachdem er geschildert hat, was alles Mörtel für die neue Mauer zur Ukraine gewesen sei, ruft er, ganz wie Ex-Schauspieler Ronald Reagan an die Adresse Gorbatschows: „Herr Bundeskanzler; reißen Sie diese Mauer nieder!“ Erneut als historische Mission - „damit Ihre Nachfahren stolz auf Sie sind!“ Viele Abgeordnete sind geradezu benommen von dieser Wucht. Und können umso weniger verstehen, dass die Ampel-Mehrheit einfach zur Tagesordnung übergeht.

 Wolodymyr Selenskyj live im Bundestag, auch die Minister auf der Regierungsbank applaudieren.

Wolodymyr Selenskyj live im Bundestag, auch die Minister auf der Regierungsbank applaudieren.

Foto: dpa/Michael Kappeler

„Der Präsident der Ukraine beherrscht die Kunst der Rede nahezu perfekt“, stellt die Präsidentin des Verbandes der Redenschreiber, Jacqueline Schäfer, fest. Die jeweilige Zielgruppe bestimme sein Narrativ, er nutze „gezielt Triggerpunkte, die bei den Angesprochenen kollektive Erinnerungen wecken“. Wenn über Stolz, Angst und Schuld Gefühle geweckt würden, entstünden schneller Solidarität, aber auch Identifikation. Selenskyj komme als Präsident seine Erfahrung als Comedian zugute. Schäfer: „Früher bereitete er den Boden für seine Pointen, um sie dann mit perfektem Timing zu platzieren. Das Prinzip wendet er immer noch wirkungsvoll an. Nur sind seine Botschaften heute bitterer Ernst.“

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