Deutsch-türkische Erdogan-Wähler Die autoritäre Versuchung

Meinung | Duisburg · Auch im zweiten Wahlgang hat Erdogan rund zwei Drittel der in Deutschland lebenden Türken für sich gewonnen. Was treibt integrierte Migrantinnen und Migranten dazu an, einen Autokraten zu wählen, obwohl sie in einer Demokratie leben?

 Erdogan-Anhänger im Duisburger Norden mit türkischen Nationalfahnen (Symbolbild).

Erdogan-Anhänger im Duisburger Norden mit türkischen Nationalfahnen (Symbolbild).

Foto: dpa/Christoph Reichwein

Fußballprofis sind gewöhnlich eher unpolitisch. Umso mehr Aufmerksamkeit erregten Mesut Özil und Ilkay Gündogan, als sie gemeinsam mit dem türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan ihre Trikots präsentierten. Zwei Führungsspieler der deutschen Nationalmannschaft, perfekt integriert, mit Top-Gehältern, stellen sich in den Dienst eines ausländischen Autokraten. Nur die türkische Herkunft verbindet sie mit Erdogan. Während Gündogan sich später distanzierte, machte Özil noch im jüngsten Wahlkampf Werbung für den Staatschef.

Ein bisschen so geht es vielen deutsch-türkischen Wählern bei der jüngsten Präsidentenwahl. Zu zwei Dritteln gaben sie dem Amtsinhaber ihre Stimme, obwohl der die Meinungsfreiheit beschneidet, Minderheiten unterdrückt, Justiz und Medien beherrscht und seine politischen Gegner ins Gefängnis wirft. In Deutschland können diese Wähler ihre Freiheiten voll ausleben. Sie wählen obendrein in der Regel demokratische Parteien, wenn sie über beide Staatsbürgerschaften verfügen.

Erdogan-Anhänger jubeln in Duisburg nach der Stichwahl in der Türkei​
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Erdogan-Anhänger jubeln in Duisburg nach der Stichwahl in der Türkei

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Foto: dpa/Christoph Reichwein

Was bewegt Menschen dazu, einen autoritären Politiker in ihrem Herkunftsland zu wählen, obwohl sie in ihrer neuen (oder vielleicht auch schon einzigen) Heimat gut integriert sind, eine Schul-, Universitäts- oder Berufsausbildung durchlaufen haben und meist über eine ordentlich bezahlte Arbeitsstelle verfügen? Mithin also Teil der bundesdeutschen Wohlstandsgesellschaft sind

Man kann den Bogen noch weiter spannen. Auch die Ostdeutschen haben einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt und genießen nie gekannte Freiheiten und Möglichkeiten, wählen aber trotzdem zu gut einem Viertel die autoritär-rechtspopulistische AfD. In Polen und Ungarn reicht es für die nicht eben lupenreinen Demokraten der rechtsgewirkten PiS (Polen) oder der populistischen Fidesz-Partei (Ungarn) sogar für eine Mehrheit. In guter autoritärer Manier behindern die polnische Führung die Justiz und die ungarischen Machthaber die freien Medien. Sehr demokratisch geht es in beiden Ländern nicht zu. Aber wirtschaftlich haben sowohl Polen wie auch Ungarn in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugelegt.

Es sind also nicht so sehr eine schwierige wirtschaftliche Lage oder die Angst vor dem Abstieg, die Autokraten so populär machen. Denn gerade in der Türkei ist Erdogan drauf und dran, die ökonomischen Erfolge, die er mit seiner früheren Politik zweifellos errungen hat, für alle sichtbar wieder in Frage zu stellen. Die Deutsch-Türken berühren sie ohnehin nicht, weil sie die wirtschaftliche Stabilität der Bundesrepublik erleben, an der sie kräftig mitgewirkt haben.

Die große Zustimmung zu Erdogan, die sich auch in lärmenden Autokorsos nach der erfolgreichen Wahl in großen deutschen Städten widerspiegelte, hat andere Ursachen. Wie in den anderen Beispielen auch. Es ist das Gefühl, vielleicht doch nicht ganz dazu zu gehören. Die Deutsch-Türken zum Westen, die Ostdeutschen in den neuen Ländern zur Bundesrepublik, die Polen und Ungarn zu Europa. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat dieses Phänomen den „feinen Unterschied“ genannt, als er über die Schichten seines Landes forschte und den Mythos der Chancengleichheit demontierte. Denn den Angehörigen der Ober- und Mittelschicht fiel es immer leichter, auch in einem formal gleichen Umfeld ihren angestammten Platz zu finden. Sie beherrschten den richtigen Gesellschafts-Code, während sich die anderen doppelt anstrengen mussten.

Reicht das als Erklärung aus? Sicher nicht, es kommen noch andere Faktoren für das merkwürdige Wahlverhalten hinzu. Allerdings stimmt es, dass Migrantinnen und Migranten oder auch schlicht Neulinge größere Widerstände überwinden müssen, um anzukommen. Da bietet Erdogan im Falle der Deutsch-Türken eine Projektionsfläche, die Bestätigung und vermeintliche Wertschätzung auf andere, viel einfachere Weise erzeugt. Und es ist auch ein bisschen Protest gegen die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die sich so ganz gegen Erdogan positioniert hat. Da nimmt man gerne in Kauf, dass vieles am Populismus und dem autoritären Gehabe des Gewählten nicht stimmt. Man muss es ja selbst nicht ausbaden. Auf Dauer ist eine solche Haltung jedoch eine sehr kurzfristige Option. Und sie verhindert auch, dass die Menschen hier wirklich ankommen, obwohl sie schon zwei Generationen und länger hier wohnen.

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