„Gender Health Gap“ Wenn leichte Schmerzen tödlich enden
Analyse | Berlin · Frauen und Männer zeigen bei Krankheiten teils unterschiedliche Symptome. Auch die Nebenwirkungen von Medikamenten können bei ihnen abweichen. Die Regierung will daher „gendersensible“ Medizin im Studium anbieten. Zum so genannten „Gender Health Gap“ die wichtigsten Fragen und Antworten.
Eine aktuelle repräsentative Befragung der AXA Versicherung zeigt: Mehr als die Hälfte (55 Prozent) der Hausärzte ist unsicher, ob sie bereits eine fehlerhafte Diagnose aufgrund des Geschlechts gestellt hat. Bis heute fehle es in der Medizin an einer geschlechterspezifischen Betrachtung, kritisieren Gesundheitsexperten. Oft fällt in diesem Zusammenhang der Begriff „Gender Health Gap“. Was damit gemeint ist, welche Konsequenzen dieser für Patienten mit sich bringt und was die Politik jetzt tun kann.
Gender Health Gap – was ist damit gemeint?
Je nach Geschlecht können Symptome von Erkrankungen und Reaktionen auf eingenommene Medikamente unterschiedlich ausfallen, sagt Ute Seeland. Sie ist Fachärztin für innere Medizin und Gendermedizinerin an der Berliner Charité und sitzt im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. Ein Beispiel sei der Herzinfarkt: „Das klassische Bild von einem Herzinfarkt ist das eines Managers, der ein Restaurant verlässt, zu seinem Zug eilt, sich an die linke Brust fasst und dann zusammenbricht“, sagt die Medizinerin. Bei Frauen sei es eben oft nicht so dramatisch. „Ihre Symptome können starke Müdigkeit, Schmerzen im Nacken oder Kiefer, Luftnot und Übelkeit sein, sodass man gar nicht auf die Idee kommt, dass es etwas mit dem Herzen zu tun haben könnte.“ Auch bei der Erforschung psychischer Erkrankungen wie Depressionen bestehe eine große „Gender Data Gap“, sagt Seeland. „Frauen zeigen eher ein klassisch depressives Bild, sind zurückgezogen und introvertiert. Bei Männern können Aggressionen und Suchtverhalten auch Ausdruck einer Depression sein nach neueren Erkenntnissen.“
Was bedeutet das konkret für Patienten?
Bei Frauen dauere es länger, bis sie mit ihren Beschwerden im Krankenhaus landen, sagt Seeland. Grund hierfür sei, dass ihre Symptome entweder gar nicht oder erst verzögert erkannt würden. Das resultiere in eine höhere Sterblichkeit besonders jüngerer Frauen und beim Herzinfarkt. „In Deutschland sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen die häufigste Todesursache von Frauen“, heißt es bei der AXA. „Der sogenannte Gender Health Gap ist Ergebnis dessen, dass sich Medizin und Gesundheitsforschung auch heute noch vorrangig an Männern orientieren“, kritisiert Kathrin Vogler, gesundheitspolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion. Viele frauenspezifische Erkrankungen, wie Endometriose oder Lipödem, sind daher bis heute nicht ausreichend erforscht. Zu beiden Erkrankungen wird derzeit in der Bundespolitik diskutiert, da Experten und Opposition mehr Forschung und eine bessere Versorgung für Betroffene fordern.
Welche Maßnahmen ergreift die Politik?
Im Koalitionsvertrag sicherten die Ampel-Parteien im Jahr 2021 zu, „geschlechtsbezogene Unterschiede in der Versorgung, bei Gesundheitsförderung und Prävention und in der Forschung“ zukünftig zu berücksichtigen. Gendermedizin solle Teil des Medizinstudiums sowie der Aus-, Fort- und Weiterbildungen der Gesundheitsberufe werden. Laut Seeland besteht aktuell noch ein hoher Nachholbedarf: „70 Prozent der Universitäten beginnen gerade erst damit, sich Gedanken darüber zu machen, in welcher Form sie geschlechterspezifische medizinische Aspekte ins Curriculum einbringen.“ Dabei sei das Interesse der Studierenden hoch. Dem Bildungsministerium zufolge sei die konkrete Ausgestaltung der Curricula Sache der Länder und derer medizinischer Fakultäten. Zwischen 2017 und 2022 seien aber bereits rund 10,3 Millionen Euro in die Förderung gendersensibler Studien von Präventions- und Versorgungsforschung geflossen. Das Bundesgesundheitsministerium gibt an, bis 2025 insgesamt zwölf Projekte mit einem Volumen von knapp vier Millionen Euro zu fördern.
Was fordern Opposition und Mediziner von der Bundesregierung?
Seeland begrüßt den Rückenwind, den die Politik mit ihrer Vereinbarung geliefert habe. „Jetzt fehlt es eben an den Lehrstühlen und an der Verbreitung in die Praxis“, sagt sie. Letztendlich scheitere das immer am Geld zur Finanzierung der Lehrstühle. Die Politik müsse dieses Geld jetzt kanalisieren. Auch der Opposition reichen die Maßnahmen der Regierung noch nicht. „Wir müssen dringend davon wegkommen, dass noch immer der Mann als Normalfall und Frauen, die die Mehrheit der Bevölkerung stellen, als Abweichung wahrgenommen werden“, so Vogler. Es sei gut, dass die Bundesregierung sich „wenigstens einige kleine Maßnahmen“ vorgenommen habe, um die Probleme einer „oft noch genderblinden Medizin anzugehen“. Leider sei bisher von der Umsetzung noch nichts zu bemerken. „Gesundheitsminister Lauterbach muss hier endlich an die Arbeit gehen", so die Linken-Gesundheitspolitikerin. Anja Butschkau, Abgeordnete der SPD-Fraktion im NRW-Landtag, fordert mehr Geld für Forschung und Aufklärungskampagnen für medizinisches Fachpersonal: „Klar ist: Für ein leistungsfähiges Gesundheitssystem ist eine geschlechtsspezifische Differenzierung unverzichtbar.“