Interview mit Unionsfraktionschef Volker Kauder "Google hat die Marktmacht, bestimmt aber nicht die Regeln"

Berlin · Für den Augenblick will Unionsfraktionschef Volker Kauder die Debatte über einen Abbau der kalten Progression beenden: Dafür gebe es derzeit keine Spielräume, sagt er im Interview mit unserer Redaktion. Nach dem Google-Urteil des Europäischen Gerichtshofes eröffnet er dagegen die Diskussion um einen neuen europäischen Rechtsrahmen für ein "Vergessen" im Internet. Davon seien auch die sozialen Netzwerke betroffen.

Volker Kauder ist Fraktionschef der Union im Bundestag.

Volker Kauder ist Fraktionschef der Union im Bundestag.

Foto: dpa, Britta Pedersen

Hätten Sie sich vorstellen können, dass sich Europa kurz vor der Wahl in einer derartigen Krise wie jetzt mit Russland befinden könnte?

Kauder Nein. Nach den Erfahrungen der beiden Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges hätte es wohl niemand für möglich gehalten, dass ein Land Grenzen mit Gewalt verändert. Ich war mir sicher, dass so etwas nicht mehr passieren wird.

Kann man da auch als langjähriger Politiker den Glauben an die Verbindlichkeit von Politik verlieren?

Kauder Geschichte wird, wie sich auch in dieser Krise zeigt, stark von Personen bestimmt. Diese Person, in dem Fall Putin, kann natürlich immer eine Lage radikal ändern, wenn sie die Macht dazu hat und diese für seine Zwecke einsetzt. Aber gerade in dieser Situation bewährt sich unser Europa doch. In der EU werden Grenzen eben nicht mehr in Frage gestellt. Europa steht auch gegenüber der russischen Politik zusammen, die eine Destabilisierung der Ukraine, aber auch anderer Länder betreibt. Da können wir mit Recht vor der Wahl sagen: Schaut mal, was das geeinte Europa für einen Wert hat! Es ist die größte Friedensversicherung, die wir haben. Wenn wir in Europa zusammenstehen, dann werden wir auch in Zukunft erfolgreich sein.

Ist es in der Krise gut, eine Kanzlerin zu haben, die mit Putin telefoniert, oder wäre da ein Schröder, der ihn umarmt, besser?

Kauder Gerhard Schröder dürfte eher ein Problem für Außenminister Frank-Walter Steinmeier und die SPD sein, nicht für uns. Wir sind dankbar dafür, dass die Bundeskanzlerin und der Außenminister die Verhandlungen vorantreiben und sich auch darum kümmern, dass Europa zusammenbleibt.

Kommt die europäische Diplomatie gerade an ihre Grenzen?

Kauder Es gibt keine militärische Lösung, sondern nur politische und diplomatische. Dabei bleibt es. Wir sind noch nicht an den Grenzen der Diplomatie. Alle werden weiter versuchen, Russland auf den Weg der Vernunft zurückzubringen.

Die deutsche Wirtschaft ist sehr eng mit der russischen verknüpft. Welche Folgen sehen Sie?

Kauder Es gibt im Augenblick keine Wirtschaftssanktionen gegen Russland. Aber die Unternehmen werden sich angesichts der Entwicklung Investitionen in Russland nun zwei Mal überlegen. Es fließen auch jede Woche Milliardenbeträge aus Russland ab. Das Land hat sich selbst schon jetzt einen schweren Schaden zugefügt. Die Führung Russlands wird dies auf Dauer nicht verleugnen können.

Sehen Sie eine offene Flanke in Europa?

Kauder Europa hat eine ungebrochene Anziehungskraft. Niemand ist gezwungen worden, der EU beizutreten. Die Länder des südlichen Balkans bemühen sich derzeit um Aufnahme. Die Anziehungskraft von Russland scheint dagegen nicht besonders groß zu sein.

Schweißt so eine Krise die große Koalition zusammen?

Kauder Die Große Koalition arbeitet schon länger professionell zusammen. Wir haben ein großes Reformgesetz zur Energiewende auf den Weg gebracht. Auch bei Rente und Mindestlohn werden wir zu Ergebnissen kommen. Und wir werden in dieser Legislaturperiode einen ausgeglichenen Haushalt präsentieren. Das hat es seit 40 Jahren nicht mehr gegeben.

Wie wollen Sie denn beim Thema Rente dem Vorwurf begegnen, dass diese Koalition die Zukunft der Kinder verfrühstückt?

Kauder Wir können all diese Maßnahmen gut finanzieren, wenn die Wirtschaft weiter läuft. Jede Rentenleistung wird immer aus dem Bruttosozialprodukt eines laufenden Jahres finanziert. Wenn der heute 20-Jährige in 45 Jahren in Rente geht, wird er durch die Maßnahmen nicht mehr belastet. Für die Jungen ist doch eine andere Nachricht viel wichtiger: Wir machen keine neuen Schulden mehr. Die Staatsschuldenberge sind die eigentliche Hypothek für die Jungen.

Gefährden Sie dieses Ziel mit der Mütterrente, die in den kommenden Jahren aus Steuermitteln bezahlt werden muss?

Kauder Mit der Mütterente würdigen wir die Leistung der Generationen von Müttern, für die es viel weniger Gleichberechtigung im Beruf gab als heute. Das sehen sehr viele Jüngere so. Die Mütterrente kostet sieben Milliarden Euro im Jahr, und wir können es finanzieren.

Ohne Nachbesserungen stimmen Teile Ihrer Fraktion aber nicht für das Rentenpaket. Was wollen Sie mindestens raushandeln, damit alle unterschreiben können?

Kauder Dem Wirtschaftsflügel geht es mit seiner Kritik nicht um die Mütterrente, sondern um die Rente mit 63 nach 45 Beitragsjahren. Natürlich steht sie in einem gewissen Widerspruch zu der Erkenntnis, dass wir alle wegen der Altersentwicklung länger arbeiten müssen. Diese Entwicklung wird jetzt etwas verzögert, aber nicht gestoppt. Es bleibt aber dabei, dass die Rente mit 67 kommt.

Aber was wollen Sie tun, damit Ihre Leute zustimmen?

Kauder Das verhandeln wir derzeit. Klar ist, dass wir die Anreize zur Frühverrentung vermeiden müssen, die mit der Rente nach 45 Beitragsjahren ohne Korrekturmechanismus auftreten würden. Eine Frühverrentungswelle brauchen wir nun wirklich nicht. Die Zeit drängt und wir müssen Anfang kommender Woche zu einem Ergebnis kommen, denn wir wollen das ganze Rentenpaket am 23. Mai verabschieden. Das muss sein, weil wir von der Union die verbesserte Mütterrente zum 1. Juli zahlen wollen.

Auf dem Verhandlungstisch liegt ja schon die Flexi-Rente, die vorsieht, dass Arbeitnehmer länger arbeiten gehen können. Was halten Sie davon?

Kauder Der Vorschlag ist richtig. Das wäre eine richtige Idee. Wir müssen die Möglichkeit schaffen, dass ein Arbeitnehmer, der das Renteneintrittsalter erreicht hat, im selben Betrieb auch befristet weiterbeschäftigt werden kann. Die Betriebe sind gerade auf die Älteren mehr und mehr angewiesen. Jedes Jahr, das weitergearbeitet wird, ohne Rente zu beziehen, bringt dem Rentner am Ende 6 Prozent mehr Rente. Über die einzelnen Punkte muss aber noch weiter gesprochen werden. Klar ist aber, dass ein Rentner nicht volles Arbeitsentgelt plus Rente kassieren kann.

Die SPD drängt Sie nun plötzlich auch zur Abmilderung der kalten Progression. Warum sperren Sie sich immer noch?

Kauder Als wir finanzielle Spielräume dafür hatten, sind wir in der vergangenen Wahlperiode im Bundesrat an den SPD-Ländern gescheitert. Wir haben uns in der Koalition vorgenommen, mehr Geld für Bildung, Familien, Forschung und Innovation bereit zu stellen. Darüber hinaus gibt es derzeit keine Spielräume, wie auch die jüngste Steuerschätzung bestätigt hat. Ich bitte alle in der Koalition, die Diskussion ehrlich zu führen, auch wenn man gern eine neue Richtung in seiner Politik signalisieren möchte. Den Bürgermeistern muss auch gesagt werden, dass ein Abbau der kalten Progression auch dazu führen würde, dass den Kommunen Einnahmen von über 600 Millionen Euro fehlen würden.

Wie erklären Sie das dem Facharbeiter, dem der Staat das Lohnplus wegsteuert, obwohl er jedes Jahr neue Rekorde an Steuereinnahmen verbucht?

Kauder Das sollte sich jeder Einzelne im Detail einmal ganz genau anschauen. In den höheren Einkommensgruppen sind das beachtliche Summen. Aber in Familien, die bei Durchschnittseinkommen fast keine Steuern mehr bezahlen, wäre eine Entlastung weniger spürbar.

Bleibt es gleichwohl ungerecht?

Kauder Ein Abbau der kalten Progression wäre wünschenswert, keine Frage. Für 2014 und 2015 gibt der Haushalt aber nichts her. Die SPD-Länder haben wieder ihr Nein signalisiert. Deshalb brauchen wir darüber im Augenblick auch nicht zu sprechen.

Besteht also für 2016 noch Hoffnung auf Steuererleichterung?

Kauder Ich kann nicht voraussagen, wie die wirtschaftliche Entwicklung sein wird. Ein Ziel muss immer erreicht sein: Es gibt keine neuen Schulden mehr. Daran muss sich alles orientieren.

Welche Auswirkungen wird ein mögliches gutes Abschneiden der AfD bei den Europawahlen auf die Bundespolitik haben?

Kauder Wir machen unseren Wahlkampf und hoffen auf ein gutes Ergebnis. Wir brauchen auch in Europa eine starke Europäische Volkspartei, um dort Unsinn zu verhindern. Darüber reden wir und nicht über unsere Mitbewerber.

Die AfD behauptet, sie sei die einzig verbliebene bürgerlich-konservative Stimme.

Kauder Das ist doch eine total zerstrittene Gruppe.

Vermissen Sie denn die FDP?

Kauder Ich finde es wirklich schade, dass die FDP nicht mehr im Deutschen Bundestag ist. Aber jetzt muss sie schauen, mit welchen Themen sie für eine liberal-wirtschaftliche Wählerschaft wieder interessanter wird. Das ist noch ein weiter Weg.

Macht es Sie nervös, dass die FDP sich auch ein Zusammengehen mit der SPD gut vorstellen kann?

Kauder Überhaupt nicht.

Google muss nach einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes Links löschen, wenn damit Persönlichkeitsrechte verletzt werden. Was bedeutet das für den Umgang mit dem Internet in Deutschland?

Kauder Die wichtigste Botschaft des Urteils ist vielleicht die Klarstellung, dass auch Konzerne wie Google oder Amazon sich in Europa an das hiesige Recht zu halten haben. Sie mögen über große Marktmacht verfügen. Sie bestimmen aber nicht die Regeln, sondern dies tun die Politik und die Gerichte in Europa. In Europa und in Deutschland sollten wir daran gehen, einen vernünftigen Rechtsrahmen zu schaffen, der den Schutz der Persönlichkeitsrechte, aber auch der Meinungs- und Informationsfreiheit gerecht wird. Die Frage, ob eine Person ewig mit Vorgängen aus der Vergangenheit konfrontiert werden kann, ist dabei ein wichtiger Punkt. Das betrifft aus meiner Sicht nicht nur Suchmaschinen-Betreiber, sondern Archive im Internet allgemein und auch die sozialen Medien.

Sehen Sie hier auch als Gesetzgeber Handlungsbedarf?

Kauder Ich denke, die Fragen sind auch in der Debatte über die neue Datenschutzrichtlinie zu stellen. Es wäre wünschenswert, wenn es in Europa zunächst mehr oder weniger einheitlich geregelt werden könnte, wie Verbraucher darauf hinwirken können, dass ihre Daten nicht mehr öffentlich zugänglich gemacht werden. Klare Grenzen, ab wann das der Fall sein wird, werden aber sich nur schwer festlegen lassen. Es kommt immer auf eine Abwägung zwischen den Persönlichkeitsrechten und dem Informationsinteresse der Allgemeinheit an. Das ist aber beispielsweise auch heute im Presserecht genauso.

Rena Lehmann und Gregor Mayntz sprachen mit dem Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.

(may / rl)
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