Kanzlerin denkt lieber an Europas Gelingen Außenkanzlerin Angela Merkel

Berlin · Die innenpolitischen Streitthemen überließ Angela Merkel in den Koalitionsverhandlungen der CSU und der SPD. Sie selbst denkt lieber an Europas Gelingen. Dabei benötigt Deutschland dringend eine Reformkanzlerin.

Kanzlerin denkt lieber an Europas Gelingen: Außenkanzlerin Angela Merkel
Foto: dpa, Michael Kappeler

Es war eine verräterische Bemerkung, die Angela Merkel in der letzten Verhandlungsrunde mit der SPD-Spitze fallen ließ. Es sei toll gewesen, mal wieder eine so tiefgreifende Diskussion über die relevanten gesellschaftlichen Themen zu führen, kommentierte Merkel die Koalitionsverhandlungen. Das habe sie lange nicht mehr erlebt.

Von der Wissenschaftlerin im Kanzleramt ist bekannt, dass sie eine geradezu kindliche Freude an detaillierten Diskussionen entwickeln kann. Was die CDU-Chefin mit der Bemerkung allerdings auch zugab: Die Euro-Krise hat Merkel in den vergangenen Jahren offenbar zeitlich und inhaltlich fest im Griff gehabt. 22 EU-Gipfeltreffen haben Merkel den Blick auf innenpolitische Debatten verstellt. Die Europäische Bankenaufsicht, der Fiskalpakt, griechische Privatisierungsmaßnahmen und die spanische Jugendarbeitslosigkeit dominierten.

Nun ist zu befürchten, dass Angela Merkel in ihrer dritten und womöglich letzten Amtszeit erneut das Äußere dem Inneren vorzieht. In den zentralen Konfliktthemen der zurückliegenden Koalitionsverhandlungen — Mütterrente, Rente mit 63, Doppelte Staatsbürgerschaft, Mindestlohn, Pkw-Maut — waren es jedenfalls SPD-Chef Sigmar Gabriel und CSU-Chef Horst Seehofer, die Thema, Tenor und auch die politischen Ergebnisse diktierten. Manch einer fragte sich bereits: Was will eigentlich die CDU-Chefin in den nächsten vier Jahren innenpolitisch erreichen?

Es stimmt ja: Eine international wettbewerbsfähige, auf fiskalische Disziplin achtende Europäische Union ist Angela Merkels Leitgedanke. In den Europa-Debatten sei die Kanzlerin "energisch und kenntnisreich wie nirgends sonst" gewesen, berichten SPD-Unterhändler beeindruckt. Wenn alles gut geht, wird die Kanzlerin nach ihrer geplanten Wiederwahl am 17. Dezember im Bundestag für einen Kurztrip nach Frankreich fliegen, Positionen abstecken. Anfang des Jahres folgt der erste EU-Gipfel.

Angela Merkels Berater sind sich einig, dass die Regierungschefin einen prominenten Platz in den Geschichtsbüchern bekommen wird, weil sie Europas größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg bekämpft hat und nicht etwa, weil sie die Wehrpflicht abgeschafft oder den Mindestlohn eingeführt hat.

Aber ist dieser europäische Fokus auch gut für Deutschland? Zweifel sind angebracht.

Denn Merkels Lieblingssatz, Deutschland gehe es nur gut, wenn es Europa gut gehe, muss eigentlich auch andersherum gelten. Europa kann nur ein wettbewerbsfähiger Kontinent bleiben, wenn es Deutschland als stärkster und wichtigster Volkswirtschaft weiterhin gut geht. Also müsste eine Koalition doch eigentlich alles tun, damit Deutschland seine Leistungsfähigkeit behält.

Eigentlich. Denn in Wirklichkeit bearbeiten die künftigen Koalitionäre das Fundament des Wirtschaftsstandorts mit dem Presslufthammer. Neue, dauerhafte Milliardenausgaben in der Rente bedrohen die Sozialkassen und damit in der Folge auch die öffentlichen Haushalte. Die geplante Senkung des Rentenbeitragssatzes, eine Entlastung der arbeitenden Mitte und eine Stimulanz für die Wirtschaft, wird abgesagt. Von besseren Investitionsbedingungen für den Mittelstand, Stichwort degressive Abschreibung, steht nichts im Koalitionsvertrag. Die leistungsfeindliche, schleichende Steuererhöhung ("kalte Progression") bei Lohnzuwächsen wird nicht korrigiert. Dafür bleiben kostspielige, aber zweifelhafte Programme wie das Betreuungsgeld bestehen. Das Wahlkampf-Diktum der Union — "keine Steuererhöhungen" — findet sich übrigens nicht im Koalitionsvertrag.

Vergisst Angela Merkel vor lauter Europa-Euphorie Deutschland?

Im Bundesfinanzministerium wird bereits gemunkelt, dass entgegen aller Beteuerungen die Schuldenregel, nach der der Bund maximal 0,35 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung an neuen Krediten aufnehmen darf, schon 2014 gerissen werden könnte. Von wegen ausgeglichener Haushalt. Spätestens 2015, so heißt es, müsste die Merkel-Regierung Steuern erhöhen, wenn sie ihre Ausgabenpläne finanzieren will.

Auch das Ausland wundert sich: Die französische Zeitung "Le Monde" kritisiert, dass sich CDU/CSU und SPD neutralisieren, "anstatt ihre Kräfte zu bündeln, um tiefgreifende Reformen des deutschen Wirtschafts- und Sozialsystems vorzuschlagen, das in den letzten Jahren schwer gelitten hat". Die "Neue Zürcher Zeitung" sieht "alten Wein in neuen Schläuchen". Nach Zukunft und "großen Aufgaben" klingt all das nicht.

Die echten Zukunftsthemen werden nur zaghaft angegangen. Die Zuständigkeiten in der "Bildungsrepublik Deutschland" (Angela Merkel) werden wieder einmal nicht geordnet. Union und SPD einigen sich auf drei Milliarden Euro für außeruniversitäre Forschung, an die Schulen darf der Bund aber nicht ran. Auch die Antworten auf die rasante demografische Entwicklung, der die Kanzlerin in einer Rede 2012 "allerhöchste Aufmerksamkeit" versprach, fallen düster aus. Kein Durchbruch bei der Zuwanderungspolitik, kein Masterplan für die Digitalisierung der Industriestruktur. Zwei Drittel der Deutschen kennen schnelles Internet weiterhin nur aus der Fernsehwerbung. Das reichlich unklare Bekenntnis zu einer "Demografiereserve" in der Pflegeversicherung ist noch das Nachhaltigste, was Union und SPD vereinbart haben. Auch die dringend notwendige Reform der Familienleistungen und konkrete Verbesserungen bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf bleiben im Gestrüpp der Bund-Länder-Kompetenzen hängen.

"Ich sitze ruhig und mache meine Arbeit", hat Angela Merkel vergangene Woche in der Pressekonferenz gesagt. Beruhigend klingt das irgendwie nicht mehr.

(brö)
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